Anekdote: Nachts ist es kalt, du sollst dich wärmer anziehen


Das Leben im zen-buddhistischen Kloster ist keine Muße. Früh morgens beginnt die Übung, tagsüber wird hart gearbeitet, und bei Einbruch der Dunkelheit herrscht Bettruhe. Strenge Disziplin wird von den Schülern erwartet.

Eines Abends, als die Sterne am Himmel funkelten, machte Zen-Meister seinen gewohnten Kontrollgang nach der Bettruhe und entdeckte im Schlaflager einen leeren Schlafplatz. Mehrere Abende in Folge bemerkte er, dass derselbe Platz unbesetzt blieb. Gleichzeitig entdeckte er einen leeren Stuhl in einem dunklen Eck des Hofes. Der Meister ahnte, dass der neue Schüler Ye sich aus dem Kloster schlich, um im Dorf seinen Spaß zu suchen. Entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, setzte sich der Meister auf den Stuhl und wartete geduldig.

Eine lange Weile verging, und die Nacht wurde kälter. Schließlich kletterte Ye in der Tat über die Mauer zurück ins Kloster. In seiner Eile und Dunkelheit bemerkte er nicht den stillen Zen-Meister und trat beim Abstieg in den Hof versehentlich auf dessen Schulter. Als Ye realisierte, wer vor ihm saß, erstarrte er vor Schreck und erwartete eine strenge Rüge und harte Strafe.

Doch statt Zorn und Tadel, sprach der Meister in einem unerwartet sanften und fürsorglichen Ton: „Nachts ist es kalt, du sollst dich wärmer anziehen. Geh jetzt schlafen.“ Ye war sichtlich erleichtert und tief dankbar. Von diesem Moment an blieb kein Schlafplatz mehr leer und auch der Stuhl im Hof war nicht mehr unbesetzt.

Durch dieses Erlebnis erkannte Ye, dass die wahre Erziehung aus Liebe durch Toleranz statt Strafe und durch Motivation statt Kritik erfolgt. Toleranz überwindet die Kluft zwischen den Menschen und schafft Raum für die Menschlichkeit. Je größer dieser Raum, desto harmonischer können Probleme gelöst und Beziehungen gepflegt werden. Der Meister hatte Ye nicht nur zurück ins Kloster geholt, sondern ihm auch eine tiefere Lektion über Toleranz und Vergebung erteilt.



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