Die 12-gliedrige Bedingungskette

Herz Sutra – „Keine Verblendung. Auch kein Ende der Verblendung. Bis hin zu keinem Alter und Tod. Aber auch kein Ende von Alter und Tod.“

——Begleitlektüre zum Drei Schätze Retreat am 21.04.2021

Die zwölfgliedrige Kette des bedingten Entstehens

Wenn dieser Satz einen Bogen von der Verblendung bis hin zu Alter und Tod schlägt, spricht er damit den buddhistischen Kreislauf der Existenz, die zwölf Glieder der bedingten Entstehung, an.

Das abhängige Entstehen ist ein ganz zentraler Punkt in der Buddhalehre. Wenn Gautama Buddha in den Lehrreden seinem jeweiligen Gesprächspartner tiefere Zusammenhänge des Lebens nahe bringen will, fängt er oft ganz einfach und simpel an, so wie hier:

„Aber lass die Vergangenheit sein, Udayin, lass die Zukunft sein. Ich werde dir den Dharma lehren: Wenn dies existiert, ist jenes – mit der Entstehung von diesem entsteht jenes. Wenn dies nicht existiert, ist jenes nicht – mit dem Aufhören von diesem hört jenes auf.“ [i]

Das weitere Gespräch mit dem Wanderasketen Udayin dreht sich dann um andere Themen. Aber in diesem eher banal klingenden Auftakt ist eigentlich die ganze Buddhalehre schon enthalten, wenn man ihn wirklich erfasst hat. Der Rest ist sozusagen nur noch Kommentar dazu.

Sind alle Ursachen und Bedingungen für ein Phänomen da, dann wird dieses auch in Erscheinung treten. Aus Nichts hingegen, zufällig und spontan, kann laut der Buddhalehre nichts werden. Dies ist die Lehre von der bedingten Entstehung (Pratityasamutpada) und ihren zwölf Gliedern.

Die 15. Rede der längeren Sammlung der Lehrreden, Mahanidana Sutta, handelt exklusiv von diesen 12 Gliedern, der Nidana-Reihe (Nidana heißt Ursache, Abstammung, Grund).

Sie beginnt mit einer selbstbewussten Aussage Anandas:

 „ Großartig und erstaunlich ist es, Bhante (Erhabener), wie tief die Lehre vom abhängigen Entstehen ist und wie tief sie hinableuchtet. Trotzdem erscheint sie mir wie völlig offengelegt.“

 Doch Gautama erwidert:

„Sag das nicht, Ananda. Sag das nicht, Ananda. Tief ist die Lehre vom abhängigen Entstehen und tief leuchtet sie hinab. Wegen des Nichtverstehens dieser Lehre, wegen des Nichtdurchdringens überwindet die Menschheit, die wie ein Garnknäuel verflochten ist, verklumpt und verfilzt, durcheinandergewachsen wie Gras und Unkraut, nicht Unglück, schlechte Existenz, Abgrund und den Daseinskreislauf.“

Dies zeigt uns, wie tiefgründig diese Lehre ist, wenn man sich auf sie einlässt, auch wenn die Aufzählung der 12-gliedrigen Kette auf den ersten Blick banal wirken mag.

Bevor wir sie im Einzelnen durchgehen, sei noch betont, dass man sie sich nicht als ein starres Schema vorstellen darf, das mit dem ersten Glied beginnen muss und dann linear durchrasselt. Es ist ein anfangloser Kreislauf. In den Lehrreden spricht Gautama Buddha von ihnen nicht nur in der Reihenfolge unseres Herz Sutra Verses  (wie sie üblicherweise aufgezählt werden), sondern auch genau umgekehrt von „hinten“ nach „vorne“, oder auch irgendwo mittendrin beginnend. Hier in der Lehrrede (Längere Sammlung Nr. 15) etwa fängt Gautama mit dem letzten Glied an:

„„Gibt es eine Bedingung für Alter und Tod?“ Wenn so gefragt würde, Ananda, hätte man mit „die gibt es“ zu antworten. Was ist aber die Bedingung für Alter und Tod? Die „Geburt“ ist die Bedingung für „Alter und Tod“.“

Jedes der Glieder ist nun jeweils ursächlich mit dem vorhergehenden und nachfolgenden verbunden. In einer weiteren Lehrrede (Vinaya Pitaka, Mahavaga, 1. Kapitel) stellte Gautama Buddha kurz nach seinem Erwachen unterm Baum am Fluss die Kette des bedingten Entstehens wie folgt dar:

  • Es entsteht aufgrund von Un­wissen Gestalten,
  • aufgrund des Gestaltens Bewusstsein,
  • aufgrund von Bewusst­sein Körper und Geist,
  • aufgrund von Körper und Geist die sechsfache (Sinnen-)Grundlage,
  • aufgrund sechsfacher (Sinnen-)Grundlage Berührungen,
  • aufgrund von Berührungen Gefühl,
  • aufgrund von Gefühl Verlangen,
  • aufgrund von Verlangen Anhaften,
  • aufgrund von Anhaften Werden,
  • aufgrund von Werden Geburt,
  • auf­grund von Geburt Alter, Tod, Kummer, Sorge, Leid, Trübsinn und Verzweiflung.

Auf diese Weise entsteht die Gesamtheit von Unzulänglichkeiten.

  • Durch völlige Aufgabe und Auflösung von Unwissenheit löst sich Gestalten auf,
  • durch Auflö­sung des Gestaltens löst sich Bewusstsein auf,
  • durch Auflösung von Bewusstsein lösen sich Körper und Geist auf,
  • durch Auflösung von Körper und Geist löst sich die sechsfache (Sinnen-)Grundlage auf,
  • durch Auflösung der sechsfachen (Sin­nen-)Grundlage löst sich Berührung auf,
  • durch Auflösung von Berührung löst sich Gefühl auf,
  • durch Auflösung von Gefühl löst sich Verlangen auf,
  • durch Auflösung von Verlangen löst sich Anhaften auf,
  • durch Auflösung von Anhaften löst sich Werden auf,
  • durch Auflösung von Werden hört Geburt auf, durch Aufhören von Geburt hören Alter, Tod, Kummer, Sorge, Leid, Trübsinn und Verzweiflung auf.

Auf diese Weise löst sich die Gesamtheit von Unzulänglichkeit auf.“

Stellen wir zuerst die Wortbedeutung der 12 Glieder nacheinander kurz vor:

  • Unwissenheit, Verblendung, Ignoranz (Sanskrit: avidya; Chinesisch: 无明wuming)

Ist die grundsätzliche existentielle Verfassung der Lebewesen und „die Wurzel allen Übels“. Es sind im Kontext der Buddhalehre aber weder spezifische mentale Mängel noch Dummheit gemeint. Sondern im Sinne der Lehre leidet der an Avidya, der die vier edlen Wahrheiten nicht sieht, Mangelhaftes (dukkha) als angenehm bezeichnet, die drei Daseinsmerkmale nicht verstanden hat, und für das bedingte Entstehen und die Leerheit keinen Sinn hat. Eleganter wäre es eigentlich, statt mit „Unwissen“ mit „Fehlwissen“ zu übersetzen. Es ist kein „Nicht Wissen“, sondern ein fehlgeleitetes Wissen,  so wie eine Fehleinschätzung keine „Nicht-Einschätzung“, sondern eben eine in die Irre gegangene Einschätzung ist. Die wörtliche Übersetzung  von A-vidya ist „Nicht-Sehen“, daher lautet der chinesische Begriff “无明 wu-ming“, wörtlich „nicht hell“, was auf die Verblendung des Geistes hindeutet.

  • Gestaltungen, Karmaformationen (Sanskrit: sankhara; Chinesisch: 行xing)

Hier begegnet uns ein buddhistischer Begriff, den wir bereits besprochen haben. Die Fehlsicht der Wesen verleitet sie zu Handlungen mit Körper und Sprache bzw. zu Tatabsichten im Geist – zu Karma also. Im Kontext der Nidana Reihe ist es Karma, das die Wesen im Rad des Lebens festhält.

  • Bewusstsein (Sanskrit: vinnana; Chinesisch: 识 shi)

Dies ist jenes, welches die gesäten Karmasaaten speichert. Hier denkt man natürlich zuerst an das Speicherbewusstsein des Yogacara, welches der Link von einer Geburt zur nächsten ist. In der Pali Tradition wird derselbe Vorgang so erklärt: Unmittelbar nachdem das Bewusstsein im Augenblick des Todes erloschen ist, folgt ihm sogleich ein „Wiedergeburtsbewusstsein“ (patisandhi-vinnana), das den Geistesstrom weiter zu neuer Geburt führt. Es ist wie ein Echo oder ein Schatten, es kommt nicht aus dem früheren Leben, sondern ist aufgrund dessen entstanden. Es wird das Beispiel einer Kerze verwendet, die man mit einer anderen Kerze anzündet.

  • Name und Form (Sanskrit: namarupa; Chinesisch: 名色 ming se)

Dies sind jene, welche wiederum Bewusstsein nähren. Die beiden stützen einander laut den Lehrreden wie zwei Stecken, die man aneinander gelehnt hat. Eine genau treffende Übersetzung für Namarupa ist übrigens „Begriff und Bild“ von Karl Eugen Neumann, von vor über 100 Jahren. Namarupa ist eine der buddhistischen Bezeichnungen für „alles was es gibt“: ohne „Name“ eben im Sinne eines Begriffs, eines gedanklichen Konzeptes können wir „da draußen“ (=rupa) gar nichts erkennen, es wäre wie gar nichts da. Und ohne Bewusstsein spielt sich wiederum für uns gar nichts „da draußen“ ab. So verflochten sind Bewusstsein und Name und Form. Verbreitet werden sie als „Geist und Körper“ übersetzt. „Geist“ (nama) steht für die mentalen und „Körper“ für die physischen Komponente des Daseins.    

  • Die 6 Sinnesgrundlagen (Sanskrit: ayatana; Chinesisch: 六入liuru)

Wieder einmal stoßen wir auf einen Begriff, den wir bereits besprochen haben. Kommen die sechs inneren (Auge, Ohr, Nase, Zunge, Körper, Geist) mit den sechs äußeren Sinnesfeldern (Form, Klang, Geruch, Geschmack, Berührung, Gedanken) zusammen, manifestiert sich das 6. Glied des abhängigen Entstehens.

  • Kontakt (Sanskrit: sparsa; Chinesisch: 触chu)

Das ist also einfach gesagt das Aufeinandertreffen von z. B. Auge, Form und Sehbewusstsein usw. Genauer beschrieben wird Kontakt aber als ein beeinträchtigender mentaler Faktor, der (aufgrund dieses Aufeinandertreffens der äußeren und inneren Felder) ein Objekt als angenehm, unangenehm oder neutral erscheinen lässt.

  • Fühlen (Sanskrit: vedana; Chinesisch: 受shou)

Das ist sodann die offensichtliche Folge von Kontakt: Etwas wird als angenehm oder unangenehm oder neutral erfahren. Dieses Empfinden von Wohl, Wehe, Egal weckt in den Wesen das nächste Bedingungsglied.

  • Begehren, Durst (Sanskrit: trsna; Chinesisch: 爱ai)

Dass man Angenehmes begehrt ist klar. Aber auch das Nichtwollen von Unangenehmem ist ja ein Durst nach Erleichterung, ein Begehren. Und selbst Neutrales begehrt man ja, wenn man sich etwa nach der Ruhe und Stille des Samadhi sehnt. Deswegen kann dieses Sehnen zu der Falle werden, vor der Huineng warnt: Sehnen nach Samadhi ist genauso Begehren und hält zuverlässig im Kreislauf des Lebens fest. Man sieht also wie mächtig dieses Glied in uns allen ist.

  • Aufgreifen, Anhaften (Sanskrit: upadana; Chinesisch: 取qu)

Wer begehrt, haftet unweigerlich an. Letztlich sind die Objekte der Begierde, wie wir gesehen haben, ja nur die fünf Ansammlungen. Mit diesem 9. Glied werden aus ihnen die fünf „Aufgegriffenen Ansammlungen“. Dies ist der Unterschied zwischen den Weltmenschen einerseits und den Buddhas, Bodhisattvas und Arhats andererseits: für die ersteren besteht die Welt aus lauter „Greif-Ansammlungen“ (Pali: upadanakandha), für die letzteren einfach aus den reinen Ansammlungen.

  • Existenz, Werden (Sanskrit: bhava; Chinesisch: 有you)

Dies ist überall da, wo angehaftet und aufgegriffen wird. Sie ist jenes Rätsel, das im 20. Jahrhundert Martin Heidegger und die Existenzialisten faszinierte, weil sie sich fragten: „Warum ist überhaupt etwas, und nicht nichts?“. Die Nidana-Reihe wäre eine mögliche Antwort darauf. In der buddhistischen Kosmologie ist Existenz nicht auf den menschlichen Bereich beschränkt wie im modernen Weltbild, die Texte sprechen mit großer Selbstverständlichkeit von verschiedenen Höllenwelten, von Daseinsweisen als Hungergeister, als Machtwesen, bis hin zu den verschiedenen Götterwelten. Daseinsweisen als Tier und Mensch vervollständigen die sechs buddhistischen Daseinsbereiche. In jedem von ihnen kann also „Geburt“ stattfinden.

  • Geburt (Sanskrit: jati; Chinesisch: 生sheng)

Diese findet je nach den bewirkten Karmasaaten statt. Und jede Geburt ist unweigerlich der Startschuss zu „Alter und Tod“.

  • Alter und Tod (Sanskrit: jaramarana; Chinesisch: 老死laosi)

Und wir erinnern uns, dass in der 15. Lehrrede der Längeren Sammlung die rhetorische Frage an Ananda gestellt wurde, wie dieses Leiden der Wesen, Alter und Tod, zu vermeiden wäre? Und Gautama Buddha beantwortet dies gleich selbst damit, dass wenn Geburt nirgends mehr zu finden wäre, das Problem von Alter und Tod gelöst wäre. Dieses Todlose, das Nirvana, zu verwirklichen und die 12-gliedrige Bedingungskette zunichtezumachen, das ist der Grund, wozu die Buddhas überhaupt lehren.

Soweit ein erster Überblick über die 12 Glieder, wie sie von Gautama Buddha in den Lehrreden besprochen wurde. Die Erläuterungen sind immer knapp und direkt gehalten, und wie immer geht Gautama vom unmittelbaren menschlichen Erleben aus. Die Chan Schulen waren später immer bestrebt, diese Grundhaltung Gautamas beizubehalten oder wiederzufinden. Daher sprechen die Chan Meister auch vom Erfahren des Prinzips des abhängigen Entstehens in diesem Augenblick, zu jeder Zeit.

Da die Menschen ja unterschiedliche Bedürfnisse und Voraussetzungen mitbringen, entstanden sehr bald verschiedene Ausformulierungen der Themen der Buddhalehre. In allen Schulen sehr beliebt und verbreitet ist die Interpretation der 12-gliedrigen Bedingungskette als Beschreibung des Prozesses der Wiedergeburt, des andauernden Fortganges der Leben in Samsara. Dies scheint einem weit verbreiteten Bedürfnis der Menschen damals entsprochen zu haben, die schwierige Abstraktheit vieler Aussagen Gautamas mit lebendigen Beispielen verständlicher werden zu lassen.

Zum Beispiel beschreibt das 13. Sutra der Sutrensammlung Mahāratnakūṭa Sūtra den Prozess der menschlichen Geburt so:

Unwissenheit und Gestaltungen (Karmaformationen) als Ursache für das verblendete Bewusstsein, welches im Moment der Befruchtung eintrifft und das Embryo (namarupa) bildet. Das Bewusstsein im Zwischenstand klingt wie ein eigenständiger Geist, der aber keineswegs eigenständig ist. Der ist aufgrund des letzten Gedankens des vorherigen Daseins entstanden und wird vom Gedanken des aktuellen Daseins zur nächsten geleitet. Auch das Zwischenstadium ist daher ein bedingtes Entstehen und Vergehen. Dennoch heißt es, dass sich ein verblendetes Wesen im Zwischenzustand aufgrund der Ich-Vorstellung als eigenständig existierend wahrnimmt. Seine Existenz führt letztlich auf die geistigen Anhaftungen (Karma) zurück. Es entscheidet daher auch nicht, bei welchen Eltern es wiedergeboren wird. Die augenblicklich wirksame karmische Beziehung führt zur Manifestation (Im Sutra wird gesagt, es handelt sich um die Manifestation der Geschlechtsverkehr der zukünftigen Eltern), von welcher es sich angezogen fühlt. Je nach Karma kommen unterschiedliche Gedanken oder Vorstellungen hoch. In diesem Moment vereint sich das Bewusstsein mit der befruchteten Eizelle. Das vom Karma geprägten Embryo ist eine Vereinung von geistigen und körperlichen Faktoren, deshalb wird es als namarupa (Geist und Form) bezeichnet. Im Zuge des Wachstums entwickeln sich die Sinnesgrundlagen, die durch den Kontakt mit den äußeren Sinnesfeldern Angenehmes und Unangenehmes empfinden. Diese Ab- und Zuneigungen führen zu Begehren. Diese daraus abgeleiteten Bestrebungen und Handlungen verstärken noch mehr die Anhaftungen im Bewusstsein. Dieses wird dann die Ursache für die nächste Wiedergeburt. Somit setzt sich der Kreislauf von Geburt und Tod immer fort. Auf die Geburt folgen Alter und Tod. [ii]

Der Meister Nagarjuna legt den Kreislauf des Lebens so dar:

Nicht-Sehen (Ignoranz) (nämlich von Leidhaftigkeit, Unbeständigkeit und Selbstlosigkeit) formt dreierlei Gestaltungen (heilsame, unheilsame, neutrale) die zu Wiedergeburt führen. Aufgrund dessen geht man auf eine weitere Runde der Existenz zu.

Mit Gestaltungen als Ursache tritt Bewusstsein in die neue Runde der Existenz. Ist Bewusstsein in die neue Runde der Existenz getreten, werden Name und Form (=die fünf Ansammlungen) geprägt.

Sind Name und Form geprägt, treten die sechs inneren Sinnesfelder auf. Sind zu Name und Form die sechs inneren Sinnesfelder hinzu gekommen, findet Kontakt statt.

Abhängig von Auge, Form und Aufmerksamkeit (also von Nama Rupa abhängig) tritt (Seh-)bewusstsein auf.

Das Zusammentreffen dieser ist Kontakt. Aufgrund dieses Kontakts tritt Gefühl auf. Abhängig von Gefühl ist Begehren, denn man verlangt nach dem Gegenstand des Gefühls.

Begehrend greift man nach den vier Anhaftungen (Wohlgefühl, Beharren auf Ansichten, Tugendwerk und Verhaltensweisen sowie Ich-Vorstellung).

Ist da Begehren, dann ist da auch das In-Existenz-Kommen des Begehrenden. Denn wäre man begierdelos, so wäre man befreit – es gäbe keine weitere Existenz mehr.

Und dies sind die fünf Ansammlungen. Denn Existenz verursacht Geburt. Das Leiden von Alter, Tod und so weiter – Schmerz, begleitet von Klagen, Frustration, Verzweiflung – all das kommt von Geburt. So entsteht diese ganze Masse des Leidens. 

So formt der Verblendete die Gestaltungen, die die Wurzel des Daseinskreislaufs sind. Der Verblendete ist daher der Handelnde; der Weise, der die Realität gesehen hat, nicht.

Aufgrund des Schwindens der Fehlsicht tritt auch keine Gestaltung auf. Aber die Beseitigung des Nicht-Sehens geschieht durch Übung der Erkenntnis all dessen.

Aufgrund des Auflösens eines Gliedes in der 12-fachen Kette tritt ein folgendes Glied gar nicht erst auf. So schwindet diese ganze Masse des Leidens.“

Eine traditionelle tibetische Grafik (mit chinesischer Beschriftung) stellt den Bedingungskreislauf, in dem die Wesen gefangen sind, dar:

Im Zentrum, im Innersten Kreis, sehen wir die drei Geistesgifte: Verblendung (der Vogel), Begehren (das Schwein) und Abneigung (die Schlange). Die drei haben einander an der Gurgel, bedingen sich und kreisen ständig umeinander. Diese drei symbolisieren die Gesamtheit der Geistesbefleckungen und sind die Ursachen für den nächsten Kreis. Dieser stellt die zwei Entwicklungstendenzen zum Guten und Bösen dar, der böse Weg rechts dunkel und der gute links hell. Diese manifestieren sich als die sechs Daseinswege des Samsara, die im 3. Kreis dargestellt werden. Unten im Kreis sind die drei schlechten davon: „Tierwelt“, „Hungergeister“ und „Höhlenwelten“, oben die drei guten: „Mensch“, „Halbgötter“ und „Himmelsgötter“. Im äußersten Kreis ist die zwölfgliedrige Kette des bedingten Entstehens, die den Prozess zur Entstehung aller Daseinsbereiche erklärt, zu sehen.

Der Grundsatz kann so ausgedrückt werden: Das Unwissen bzw. die Geistestrübung verursacht die Karmaformation, welche zur gegenwärtigen Existenz führt. Die Geistestrübung im gegenwärtigen Dasein gestaltet weiteres Karma und erwirkt künftige Existenzen. Grafisch kann dieser Prozess so dargestellt werden:

Kein Ende der Verblendung, kein Ende von Alter und Tod

Jedes Konzept, das von Buddha gelehrt wird, soll bestimmte Anhaftungen durchbrechen. Durch das Konzept der Leerheit aufgrund des bedingten Entstehens und Vergehens erkennt man die Ursache der Anhaftungen und lässt diese los. Um aber wiederum eine Anhaftung an die Leerheit zu durchbrechen, heißt es weiter im Herz Sutra: „Keine Verblendung aber auch kein Ende der Verblendung … kein Alter und Tod aber auch kein Ende von Alter und Tod.“

In der absoluten Leerheit gibt es gar keine Verblendung, wie kann es dann ein Ende der Verblendung geben? Auch gibt es im natürlichen Sein kein Alter und Tod, wie soll es dann ein „Ende von Alter und Tod“ geben? Geht einem dies auf, löst sich die dualistische Vorstellung auf. Somit ist es nicht mehr wesentlich, in welchem Dasein oder Zustand man sich befindet. Ein Bodhisattva kann in die Höllenwelten gehen und sieht sie genauso wie die Himmelswelten. Er erlebt und erträgt das gleiche Leiden wie die Mitwesen, empfindet es aber nicht als Leiden. Somit strebt er nicht danach, das Samsara zu verlassen, da es auch das Samsara für ihn nicht gibt. 

Im Mahayana-Buddhismus bilden die sechs Daseinsbereiche des Samsara gemeinsam mit den vier Sphären der erwachten Wesen: Sravaka (Heiliger), Pratyeka-Buddha (Einzelerwachter), Bodhisattva und Buddha gemeinsam die sog. „Zehn Sphären der Phänomene“ (十法界 shi fa jie). Traditionell chinesisch wie in der folgenden Grafik dargestellt:

Oben sind die vier heiligen Sphären (Buddha, Bodhisattva, Pratjeka-Buddha, Shrevakas) und unten die sechs Daseinsbereiche des Samsara zu sehen. In der Mitte steht das Zeichen xin für Geist oder Herz, das aussagen soll, dass alle zehn Sphären nur Geist sind. Die Verblendung ist die Ursache für das Samsara. Das Erwachen die Ursache für die heiligen Sphären. Das ursprüngliche Wesen ist aber an sich klar, rein und erwacht, ohne Differenzierung von Verblendung und Erleuchtung, Samsara und Nirvana.

Abschließend ein Zitat vom Erhabenen Lehrer, der auf die Praxis eingeht:

Bei der Dao-Praxis kommt man nicht um die zwischenmenschlichen Problemen herum. Wenn Verblendung [im Geist] sich entfaltet, ist kein vernünftiger Gedankenaustausch mehr möglich. Dies ist der Reinkarnationskreislauf der Bewusstseinsenergie, die wie das Feuer lodert und schwer erträglich ist. Die Begierden und Anhaftungen führen zur Verblendung. Dies ist die Hauptursache für den endlosen Kreislauf von Geburt und Tod (Samsara). Handelt daher gelassen und haftet nicht an den karmischen Beziehungen an. Die Anhaftungen blockieren die Entfaltung der Weisheit im Geiste. […] Diese ist die angeborene „Gewohnheit“ aus den Reinkarnationen. Gedanken wie „das ist mein“, „das mache ich“, „das gehört mir“ usw. sind alles Anhaftung und Verblendung. […] Es kann schwierig oder einfach sein, die Verblendung zu durchbrechen. Es geht nur darum, die einzelnen Gedanken zu verwandeln. Gerade die Gedanken zu überwinden ist aber das Schwierige. Wie soll es gehen? […] Reflektiere [die Sachen] stets aus dem Standardpunkt anderer und lasse die Ich-Sicht los. Bedenke: Der ganze Körper gehört nicht „mir“, was ist sonst „mein“? Sei imstande, dich immer in die Lage anderer zu versetzen. [iii]


[i] Majjhima Nikaya/Mittlere Sammlung 79, Die kürzere Lehrrede an Sakuludāyin – Cūḷasakuludāyi Sutta

[ii] 佛告难陀:[…] 云何受生入母胎中?若父母染心,共为淫爱,其母腹净,月期时至,中蕴现前。当知尔时,名入母胎。[…] 随其先业,应托生处,所感中有,即如彼形。[…] 凡诸中阴,皆具神通,乘空而去。犹如天眼,远观生处。言月期至者,谓纳胎时。[…] 云何不入?父精出时,母精不出。母精出时,父精不出。若俱不出,皆不受胎。[…] 难陀,云何中有得入母胎?若母腹净,中有现前,见为欲事,无如上说众多过患,父母及子,有相感业,方入母胎。[…] 于过去生所造诸业,而起妄想,作邪解心。[…] 难陀,其时中有作此念已,即入母胎。应知受生,名羯罗蓝。父精母血,非是余物。由父母精血,和合因缘,为识所缘,依止而住。[…] 父母不净成羯罗蓝,号之为色受想行识,即是其名,说为名色。[…] (佛说入胎经; Mahāratnakūṭa Sūtra 13)

[iii] 修道不外人事问题,彼此当思想无法沟通,无明产生时,此乃累世识能的轮迴,燃烧起来滋味很难受。各人的爱愁与执著产生无明,是生死轮转不止的主因,凡事随心,不要攀缘,否则产生执著,则心智无法启发,[…] 人一生执著就无法自在。[…]「习惯」乃个人累世的宿习,而「我的」,「我做的」,「我本来就有的」等等,都是执著,都是无明。[…] 要破无明说难很难,说简单也非常简单,只要一个念头转过来就好了,只是要跨越一个念头却非常困难。如何跨越呢?[…] 时时站在别人的立场反观,去除我见,想想看,甚至整个身体都并非我有了,还有什麽是「我的」呢?因此要随时为他人设想一下。



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