„Der Sinn hat nichts zu tun mit den Schriftzeichen.“ – Die Koans zum 6. Ahnlehrer Huineng (Teil 3)

——Beitragsreihe: Die Koans zur Geschichte des Zen-Buddhismus

Das Podiumsutra fällt dadurch auf, als es im Titel als Sutra bezeichnet wird, ein Begriff, der normalerweise für die überlieferten Gespräche und Vorträge des historischen Buddhas verwendet wird. Dadurch wird dem 6. Ahnlehrer die gleiche Ranghöhe wie dem historischen Buddha zugesprochen. Dies ist bemerkenswert, da er ein Analphabet war. Dennoch besaß er die Gabe, die Lehren Buddhas immer intuitiv zu erfassen und sie treffend mit eigenen Worten zu erklären, wie wir im letzten Beitrag bei der Belehrung seines ersten Schülers Huiming erfahren haben. Nach dem Abschied von Huiming kam Huineng zunächst in seiner Heimatprovinz an und hielt sich dort versteckt. Dazu ist im Sutra folgendes zu lesen:

Huineng versteckte sich dann im Dorf Caozhou, wo niemand ihn kannte. Da war ein konfuzianischer Gelehrter namens Liu Zhilue, der ihn respektvoll und vorzüglich behandelte. Zhilue hatte eine Tante, eine ordinierte Nonne, namens Wujinzang. Sie rezitierte ständig das Maha Parinirvana Sutra. Huineng verstand den Text gleich beim Hören und erklärte ihn ihr. Als sie ihn nach den Zeichen fragte, sagte er: „Die Schriftzeichen kenne ich nicht, frage einfach nach dem Sinn.“

Die Nonne sagte: „(Wenn Sie) die Schriftzeichen nicht kennen, woher kennen (Sie) den Sinn?“

Huineng sagte: „Der wundersame Sinn aller Buddhas hat nichts zu tun mit den Schriftzeichen.“ [1]

Rasch verbreitete sich Huinengs Ruf als ein erwachter Meister, und viele Interessenten strömten zu ihm, darunter auch Menschen nobler Herkunft, die bereit waren, ihm seinen Lebensunterhalt zu bestreiten:

Zu der Zeit war die alte Klosteranlage Baolin eine verfallene Ruine, seit der Kriegszeit am Ende der Sui-Dynastie (581-618 n. Chr.). Sie bauten diese nun wieder auf und boten Sie dem Lehrer als Residenz an. Bald schon wurde das Kloster zur heiligen Stätte. [2]

Es machte den Anschein, als würde er erfolgreich seine Lehre verbreiten. Die befürchteten Schwierigkeiten jedoch waren noch nicht vorbei:

Der Lehrer wohnte dort mehr als neun Monate, aber er wurde wieder von böswilligen Parteien gefunden und verfolgt. Er versteckte sich am nächsten Berg (vor dem Kloster). Die Verfolger setzten die Wälder und Büsche in Brand. Der Lehrer konnte sich in einem Fels versteckt halten, sodass er (vom Brand) verschont wurde. An diesem Fels sind noch heute Spuren vom Knie des Lehrers durch den Sitz mit gekreuzten Beinen zu sehen, auch sind Flecken von der Abfärbung vom Stoff der Robe noch heute ersichtlich. Deshalb nennt man diesen den „Stein zum Schutz vor Unheil“. [3]

Dieses Versteck im Fels war eine kleine Grotte, deren Größe gerade nur Platz für eine Person im Sitzen bot. Wenn Gebüsche und Wälder brannten, war davon auszugehen, dass starke und lang andauernde Rauchbildung herrschte. Wie lange er, im Schneidersitz verharrend, in dieser Grotte diese ungemein belastende Situation aushalten musste?

Huineng erinnerte sich an die mahnenden Worte seines Lehrers und beschloss, sich vorerst versteckt zu halten. Im Anschluss stand folgendes geschrieben: 

Am Ort Sihui mischte er sich unter die Jäger und fand so Schutz bei ihnen. So vergingen fünfzehn Jahre. Bei Gelegenheit lehrte er die Jäger, in passenden Situationen. Immer wenn die Jäger ihn über das Fangnetz wachen ließen, ließ er die gefangenen Lebewesen wieder frei. Bei den Mahlzeiten legte er immer Pflanzliches in den (gemeinsamen) Fleischtopf. Wenn man ihn dazu fragte, dann antwortete er: „Ich esse das Gemüse nebst dem Fleisch.“ [4]


Die Lebensbedingungen in Abgeschiedenheit, in den Bergen, sind durchaus hart gewesen. Er nutzte jedoch auch die Gelegenheit, die Jäger in die buddhistische Lehre einzuweisen. Fünfzehn Jahre unter solchen ungünstigen Bedingungen zu leben, ist wohl eine harte Übung für Huineng gewesen, welche ihn allmählich zu einem großen Meister heranreifen ließ. Wie schaffte er es, trotz all den Gefahren und Schwierigkeiten seine Lehre zu verbreiten? Darum geht es im nächsten Beitrag.

„Weder Wind noch Fahne bewegen sich“ – Koans zum 6. Ahnlehrer Huineng (Teil 4) >>>

<<< „Welches ist das ursprüngliche Angesicht“ – Die Koans zum 6. Ahnlehrer Huineng (Teil 2)


[1] 师自黄梅得法,回至韶州曹侯村,人无知者。时有儒士刘志略,礼遇甚厚。志略有姑为尼,名无尽藏,常诵《大涅槃经》。师暂听即知妙义,遂为解说。尼乃执卷问字,师曰:“字即不识,义即请问。”尼曰:“字尚不识,焉能会义?”师曰:“诸佛妙理,非关文字。”——《法寶六祖壇經 機緣品》

[2] 尼惊异之,遍告里中耆德云,此是有道之士,宜请供养。有魏武侯玄孙曹叔良及居民,竞来瞻礼。时宝林古寺自隋末兵火已废,遂于故基重建梵宇,延师居之,俄成宝坊。——《法寶六祖壇經 機緣品》

[3] 师住九月馀日,又为恶党寻逐,师乃遁于前山,被其纵火焚草木,师隐身挨入石中得免。石今有师趺坐膝痕,及衣布之纹,因名避难石。——《法寶六祖壇經 機緣品》

[4] 慧能后至曹溪,又被恶人寻逐,乃于四会,避难猎人队中,凡经一十五载,时与猎人随宜说法。猎人常令守网,每见生命,尽放之。每至饭时,以菜寄煮肉锅。或问,则对曰:“但吃肉边菜。” ——《法寶六祖壇經 行由品》



Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Koan/Gong-An

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