„Kein Leben und Kein Tod“: Die Überwindung des Todes im philosophischen Daoismus

Beitragsreihe: Wie kam der Buddhismus nach China?

Kap. 1: Die Anfänge der chinesischen Philosophien und Religionen

Teil 1: Konzi (Konfuzius) und der Konfuzianismus

Teil 2: Laozi (Laotse) und der Daoismus

Teil 3: Mengzi (Mencius) im „Streit der Hundert Schulen“

Teil 4: Zhuangzi, der Wahrhaftige vom Südlichen Blütenland

Teil 5: Das Wechselspiel zwischen Legalismus, Konfuzianismus und Daoismus

Teil 6: Die Etablierung des monarchistischen Konfuzianismus als Staatsideologie ab der 2. Jh. v. Chr.

Teil 7: Huainanzi, das Lebenselixier und die „Unsterblichkeit“

Teil 8: Die Anfänge des Buddhismus in China

Teil 9: Mouzi, der erste chinesische Buddhist?

Kap. 2: Die Durchsetzung des Buddhismus in der Wei- und Jin-Zeit (220-420 n. Chr.)

Teil 1: Die Entwicklung des religiösen Daoismus und der daoistischen Elixierschule

Teil 2: Die Einführung der buddhistischen Mönchsregeln in China

Teil 3: Der Streit zwischen den Daoisten, Buddhisten und Konfuzianern

Teil 4: Die Qingtan-Strömung und die Lehre des Mystischen

Teil 5: Wang Bi über das Sein und das Nichts von Laozi

Teil 6: Guo Xiang über Zhuangzi und sein „Flötenspiel des Himmels

Teil 7: Guo Xiang über das Nichts, das Mystische und den Tod

Teil 8: Huiyuans Abhandlung über das Nichterlöschen des Geistes

Teil 9: Huiyuans Abhandlung über die Vergeltung des Karma und die drei Vergeltungszeiten

Teil 10: Huiyuans Gelübde zur Wiedergeburt im „Paradies des Westens“

Teil 11: Dao An und sein Aufstieg in den Tusita-Himmel

Teil 12: Die altchinesische und daoistische Vorstellung über den Tod 

Teil 13: Die daoistische Praxis zur Unsterblichkeit und zum Göttlichen

Teil 14: Die daoistische Vorstellung vom Jenseits und Reinkarnationskreislauf

Teil 15: „Kein Leben und Kein Tod“: Die Überwindung des Todes im philosophischen Daoismus

Der Durchbruch des Buddhismus bei den Intellektuellen des Landes erfolgte jedoch erst mit der Annäherung der philosophischen Sicht. Moderne Gelehrte nennen diesen Prozess „Den Zusammenfluss der Lehre des Mystischen mit dem Buddhismus 玄佛合流 xuan fo he liu“, welcher sich in der Wei- und Jin-Zeit (220-440 n. Chr.) und in der Zeit der „Nord- und Süddynastien“ (440-589 n. Chr.) vollzog. Die Lehre des Mystischen, vertreten durch Gelehrte wie Wang Bi und Guo Xiang, haben wir bereits in früheren Kapiteln erläutert. Wang und Guo erwähnten in ihren Kommentaren zum „Nichts und Sein“ von Laozi und Zhuangzi zwar nichts vom Leben nach dem Tod, aber nicht unbedingt aus dem Grunde, dass sie solches leugneten, wie dies viele konfuzianische Gelehrte zu jener Zeit taten. Es war aus ihrer Sicht womöglich gar nicht notwendig, über das Jenseits zu sprechen, denn sie meinten mit der Verinnerlichung ihrer philosophischen Sicht den Tod bereits überwunden zu haben. Dazu schauen wir uns diese philosophische Betrachtung näher an. Reisen wir dazu zu jener Zeit vor dem Aufstieg des religiösen und esoterischen Daoismus, nämlich über die Han-Zeit bis zum Zhuangzi, zurück. Im bedeutendsten daoistischen Werk der Han-Zeit, „Huan-Nan-Zi“, findet man dieses Zitat:

„Alle Dinge sind mystisch einheitlich, und sind weder das Nichtsein noch das Sein. Aus dem mystischen Glanz entstanden, ist das Leben gleich dem Tod. Alles unter dem Himmel ist mein Sein, ich bin alles Sein unter dem Himmel. Haben alles Sein unter dem Himmel und ich etwa einen Unterschied?“ [1]

Hier wird Leben und Tod nicht als unabhängig voneinander betrachtet, sondern als gleich angesehen. Sie manifestieren sich nur unterschiedlich, sind aber der gleichen Einheit entsprungen. Alles Sein unterscheidet sich nicht voneinander, da alles Sein eben Nichtsein ist. An einer anderen Stelle wird diese Aussage so ausgedrückt:

“Erwachen ist gleich der Verblendung, genauso ist das Leben wie der Tod. Mit dem Ende kehrt man zum Sein wie vor der Geburt, und man wird eins mit ihm. Tod und Leben sind daher eins!“ [2]

Nach dem Leben ist gleich vor der Geburt, der Tod kommt also nicht nach dem Leben, sondern war schon vor der Geburt. Es dreht sich also alles im Kreis. Die Schlussfolgerung ist also: Es gibt kein Leben und keinen Tod. Wenn wir weitere hunderte Jahre zurück zu den Anfängen dieser Philosophie gehen, dann finden wir diese Aussage auch im „Zhuangzi“. Im Kapitel „Das Wissen streift durch den Norden“ des Werkes heißt es:  

„Das Leben ist der Nachfolger des Todes, der Tod ist der Anfang des Lebens. Wer kennt schon ihre Regel? Das Leben eines Menschen beginnt mit der Ansammlung des Qi. Mit der Ansammlung gibt es das Leben, mit der Zerstreuung ist es der Tod. Wenn Leben und Tod einander begleiten, gibt es wohl kein Unheil für mich. Die zehntausend Dinge sind eins, die schönen davon sind wunderbar, die abscheulichen davon sind faulig, das Faulige verwandelt sich zum Wunderbaren, das Wunderbare zum Fauligen. So heißt es: Das eine Qi durchdringt alles unter dem Himmel, deshalb schätzt der Weise die Einheit.“ [3]

Diese Einheit wird an einer anderen Stelle so beschrieben:

Es gibt nichts ohne jenes und dieses. Sieht man nicht jenes, dann erkennt man es an diesem. Deshalb sagt man: Jenes ist diesem entsprungen, dieses ist die Ursache von jenem, jenes und dieses bringen einander hervor. Wohl: Ist das Leben da, ist der Tod da. Ist der Tod da, ist das Leben da. Das Nichtlegitime ist zugleich das Legitime, das Legitime ist zugleich das Nichtlegitime. Richtiges ist im Falschen begründet, Falsches findet den Grund im Richtigen. Deshalb setzt sich der Weise nicht damit auseinander und findet das Richtige im Befolgen des Himmels (der Natur). [4]  

Einen solchen weisen Menschen nannte Zhuangzi „den wahrhaftigen Menschen 真人 zhen ren“, welcher den Tod so betrachtete:

Die wahrhaftigen Menschen früher kennen weder Lust am Leben noch Abscheu vor dem Tod. Sie ergötzen sich nicht am Austritt und widersetzen sich nicht dem Eintritt. Sie gehen frei und kommen unbefangen, so einfach ist es nur. [5]

Im Buch wird der Prozess beschrieben, wie solch ein Weiser durch 19 Tage unaufhörlicher Praxis die Welt und sich überwindet und schließlich das „Tod- und Leblose“ erreicht:

„Ist das Leben überwunden, wird es ihm so klar wie am Morgen. Mit dieser Klarheit erkennt er das Absolute. Mit diesem Erkenntnis gibt es keine Vergangenheit und Gegenwart. Gibt es keine Vergangenheit und Gegenwart, ist er imstande, ins Todlose und Leblose einzutreten. Was das Leben tötet, stirbt nicht, was das Leben hervorbringt, lebt nicht. [6]

Dieses „Todlose und Leblose“ beschreibt eben das „Nichts“ des Laozi, welches auch den zentralen Gegenstand der „Lehre des Mystischen“ von Wang Bi und Guo Xiang usw. darstellt. Diese Idee fand Einklang mit der „Leerheit“ des Buddhismus, über welche zeitgleich unter den buddhistischen Gelehrten diskutiert wurde. Zunächst waren sich die Buddhisten über die Bedeutung der „Leerheit“ nicht einig, und es entfalteten sich verschiedene Schulmeinungen dazu. Erst mit der Übersetzung von Nagarjunas Schriften durch Kumarajiva gewann man einen tiefgehenden Einblick in die Lehre der Prajna Paramita, der vollkommenen Weisheit.

–> Fortsetzung: Teil 16: „Die nicht ausgebrannte Zunge“: Kumarajivas Bedeutung für den chinesischen Buddhismus  

Fortsetzung folgt nach der Sommerpause


[1] 万物玄同也,无非无是;化育玄耀,生而如死。夫天下者亦吾有也,吾亦天下之有也;天下之与我,岂有间哉!—《淮南子 · 原道训》

[2] 觉而若眛,以生而若死;终则反本未生之时,而与化为一体。死之与生一体也。—《淮南子 · 精神训》

[3] “生也死之徒,死也生之始,孰知其纪!人之生,气之聚也;聚则为生,散则为死。若死生为徒,吾又何患!故万物一也,是其所美者为神奇,其所恶者为臭腐;臭腐变化为神奇,神奇变化为臭腐。故曰:‘通天下一气耳’。圣人故贵一”。——《庄子·知北游》

[4] “物无非彼,物无非是,自彼则不见,自知则知之,故曰彼出于是,是亦因彼,彼是方生之说也,虽然方生方死,方死方生,方可方不可,方不可方可,因是因非,因非因是。是以圣人不由而照之于天,亦因是也。”—《庄子 · 齐物论》

[5] 古之真人不知说生不知恶死,其出不欣其入不距,翛然而往翛然而来而已矣。——《庄子·大宗师》

[6] 已外生矣,而後能朝徹﹔朝徹而後能見獨﹔見獨而後能無古今﹔無古今,而後能入於不死不生。殺生者不死,生生者不生。——《庄子·大宗师》



(Mit Korrekturen von Ursula Presslauer, Birgit Seissl, Roland Parth, Jörg Hollenstein und Alexander Maurer)



Kategorien:Buddhismus China, Daoismus / Taoismus, Die Lehre des Mystischen 玄学, Laozi/Laotse 老子, Zhuangzi/Dschuang Dsi 庄子

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