Nagarjunas Lehre der mittleren Betrachtung und Pingalas Kommentar

Beitragsreihe: Wie kam der Buddhismus nach China?

Kap. 1: Die Anfänge der chinesischen Philosophien und Religionen

Teil 1: Konzi (Konfuzius) und der Konfuzianismus

Teil 2: Laozi (Laotse) und der Daoismus

Teil 3: Mengzi (Mencius) im „Streit der Hundert Schulen“

Teil 4: Zhuangzi, der Wahrhaftige vom Südlichen Blütenland

Teil 5: Das Wechselspiel zwischen Legalismus, Konfuzianismus und Daoismus

Teil 6: Die Etablierung des monarchistischen Konfuzianismus als Staatsideologie ab der 2. Jh. v. Chr.

Teil 7: Huainanzi, das Lebenselixier und die „Unsterblichkeit“

Teil 8: Die Anfänge des Buddhismus in China

Teil 9: Mouzi, der erste chinesische Buddhist?

Kap. 2: Die Durchsetzung des Buddhismus in der Wei- und Jin-Zeit (220-420 n. Chr.)

Teil 1: Die Entwicklung des religiösen Daoismus und der daoistischen Elixierschule

Teil 2: Die Einführung der buddhistischen Mönchsregeln in China

Teil 3: Der Streit zwischen den Daoisten, Buddhisten und Konfuzianern

Teil 4: Die Qingtan-Strömung und die Lehre des Mystischen

Teil 5: Wang Bi über das Sein und das Nichts von Laozi

Teil 6: Guo Xiang über Zhuangzi und sein „Flötenspiel des Himmels

Teil 7: Guo Xiang über das Nichts, das Mystische und den Tod

Teil 8: Huiyuans Abhandlung über das Nichterlöschen des Geistes

Teil 9: Huiyuans Abhandlung über die Vergeltung des Karma und die drei Vergeltungszeiten

Teil 10: Huiyuans Gelübde zur Wiedergeburt im „Paradies des Westens“

Teil 11: Dao An und sein Aufstieg in den Tusita-Himmel

Teil 12: Die altchinesische und daoistische Vorstellung über den Tod 

Teil 13: Die daoistische Praxis zur Unsterblichkeit und zum Göttlichen

Teil 14: Die daoistische Vorstellung vom Jenseits und Reinkarnationskreislauf

Teil 15: „Kein Leben und Kein Tod“: Die Überwindung des Todes im philosophischen Daoismus

Teil 16: Die nicht ausgebrannte Zunge“: Kumarajivas Bedeutung für den chinesischen Buddhismus 

Teil 17: Nagarjunas Lehre der mittleren Betrachtung und Pingalas Kommentar

Nagarjunas Lehre, welche als das zweite Drehen des Dharma-Rades bezeichnet wird, wird als der Beginn des Mahayana Buddhismus ab dem 2. Jh. n. Chr. in Indien gesehen. Das Erste Drehen war die persönliche Lehre von Buddha Gautama selbst. Seine Lehre zur mittleren Betrachtung stellt die zentrale Idee des Mahayana Buddhismus dar. Im Kommentarwerk zur „Abhandlung der mittleren Betrachtung“ vom Mönch Ji Zang 吉藏 (549-623 n. Chr.), finden wir folgende Beschreibung der Bedeutung Nagarjunas:

Der ehrwürdige Bodhisattva Nagarjuna räumte mit den dualen Lehren auf und machte den Unterschied zum Hinayana klar. Diesen tiefen Sinn der Lehre brachte er mit seiner Abhandlung der mittleren Betrachtung vollständig zum Ausdruck.“[1] 

Die Abhandlung der mittleren Betrachtung spielte in China beim sog. „Zusammenfluss der Lehre des Mystischen und des Buddhismus“ eine maßgebliche Rolle. Analog zur Diskussion der daoistischen und konfuzianischen Gelehrten über das Sein und Nichts gab es auch im indischen Buddhismus die Auseinandersetzung zwischen den Hinayana- und Mahayana-Schulen. Laut dem Lankavatara Sutra 楞伽经 leng qie jing hat Buddha Gautama diese Prophezeiung gemacht:

Nach meinem Ableben wird es künftig im Süden von Tianzhu (altchinesischer Name für Indien) unter jenen, die meine Lehre kultivieren, einen Mönch namens „Tugendhafter Bhikkhu“ mit dem Übername „Nagarjuna“ geben, welcher die einseitigen Schulen des Seins und des Nichts zerlegen und berichtigen wird.“[2]

Die „einseitigen Schulen des Seins und des Nichts“ stellen die Hinayana Schulen, welche etwa 500 Jahre nach Buddha Gautamas Tod sich entwickelten, dar. Kumarajivas Schüler Sengrui 僧叡 (~371-438 n. Chr.) beschreibt im Vorwort der chinesischen Übersetzung der „Abhandlung der Mittleren Betrachtung“ den Zweck der Lehre so:

Die verblendeten Wesen sind in verkehrte Ansichten verfallen. Dadurch geraten sie in den Reinkarnationskreislauf der Drei Daseinswelten. Die einseitigen Ansichten entspringen der Einstellung der Verabscheuung. Sich unbiegsam daran halten führt zur Erstarrung.  Das große Erwachen liegt im weiten Leuchten, das kleine Wissen fesselt sich im engen Geist. Ist das Leuchten nicht weit, dann reicht es nicht aus, um die differenzierte Sicht von Sein und Nichts aufzuheben und den weltlichen und den der Welt entsagenden Weg zu vereinen. Ist das Wissen nicht endgültig, dann kann man nicht den Weg der Mitte erreichen und die dualen Seiten aufheben. Dass die beiden Wege nicht vereint und die dualen Seiten nicht aufgehoben sind, bereitet dem Bodhisattva Sorgen. Deshalb erläutert der große Meister Nagarjuna den Weg der Mitte.“[3]

Die „Abhandlung der mittleren Betrachtung“ besteht aus Versen zu 27 buddhistischen Kernthemen. Das Sanskritwerk wurde ins Tibetische und Chinesische übersetzt. Maßgebliche Kommentarwerke zu diesen Versen wurden von den indischen buddhistischen Gelehrten Candrakirti 月称 yue cheng (ca. 600-650 n. Chr.) und Pingala 青目 qing mu (~3. – 4. Jh. n. Chr.) verfasst. Während Candrakirtis Werk die tibetische Übersetzung ausmacht, wurde Pingalas Werk von Kumarajiva ins Chinesische übersetzt. Dennoch soll Kumarajiva die Worte von Pingala verbessert haben. So heißt es im Vorwort weiter:

Der Text hier ist vom indischen Mönch Pingala, auf Chinesisch Qing Mu, kommentiert. Er begreift zwar die Lehre tiefgründig, drückt sie aber nicht elegant aus. Den komplizierten, schwer verständlichen Teil davon hat der Lehrer (Kumarajiva) maßgeschnitten und verbessert. Dadurch ist der Text fließend und der Sinn ausführlich erklärt.“[4]

Das Vorwort von Pingala beschreibt den Anlass und Zweck der Lehre der mittleren Betrachtung so:

Der Buddha lehrte, um alle falschen Ansichten zu beschwichtigen. Er übermittelte zuerst die 12-gliedrige Kausalitätskette an die Sravakas. Dann erklärte er jenen geistig höher Entwickelten die Mahayana-Lehre: Alle Phänomene sind ohne Entstehen und ohne Vergehen, nicht eins aber auch nicht differenziert und so weiter. Sie sind im Grunde leer und ohne Sein. So wie Buddha im Prajna Paramita Sutra zu Subhuti sagte, dass der Bodhisattva die 12-gliedrige Kausalitätskette als grenzenlose Leerheit betrachtet. 500 Jahre nach dem Erlöschen Buddhas wurden die Geister der Menschen stumpf und hafteten sich an den Lehrkonzepten an. Sie suchten feste Formen für die 12-gliedrige Kausalitätskette, 5 Ansammlungen, 12 Sinnesfelder und 18 Sinnes-Bewusstseins-Bereiche und so weiter. Sie begriffen nicht den Sinn der Buddhalehre und fixierten sich auf die Schriften. Wenn sie von der endgültigen Leerheit hörten, verstanden sie den Zusammenhang nicht. Sie hegten Zweifel: Wenn alles endgültig leer wäre, wozu unterscheidet man noch zwischen Heil und Unheil, Ursache und Wirkung und so weiter, und es gäbe dann weder eine konventionelle noch eine ultimative Wahrheit. Durch die Anhaftung am Trugbild der Leerheit entfalteten sich sogar Begierden, welche zu allerlei Verfehlungen führten. Aus diesem Grunde brachte der Bodhisattva Nagarjuna die Abhandlung der mittleren Betrachtung ein.“[5]

Zu erklären sind die Begriffe “konventionelle Wahrheit 世俗谛 shi su di (samvritisatya)” und “ultimative Wahrheit 胜义谛 sheng yi di (paramarthasatya)”. Diese sind wesentlich für das Verständnis der Lehre der mittleren Betrachtung. Dieser rote Faden zieht sich im weiteren Verlauf durch den ganzen Beitrag. Die 27 Kapitel dieses Werkes behandeln alle buddhistischen Kernkonzepte aus Sicht der mittleren Betrachtung. Diese Sicht wird schon mit den ersten Versen auf den Punkt gebracht:

Kein Entstehen, kein Vergehen
Weder beständig noch unbeständig
Weder einheitlich noch differenziert
Kein Kommen, kein Gehen[6]

Diese Verse sind ein Teil der Einleitungsstrophe, die den Buddha und seine Lehre, welche das bedingte Entstehen erklärt und alle trügerischen Lehren widerlegen kann, lobpreist. Mit diesen vier gegensätzlichen Begriffspaaren und Negationen wird die ultimative Wahrheit aus der Sicht der mittleren Betrachtung zusammengefasst. Zur Veranschaulichung dieser Sicht bringt er ein Gleichnis:

Man sieht das Urgetreide am Anfang der Äonen nicht entstehen, warum? Wenn es nicht dieses Urgetreide gegeben hätte, gäbe es nicht das heutige Getreide. Wenn das heutige Getreide ohne das Urgetreide zustande gekommen wäre, dann könnte dieses als entstanden gesehen werden. Aber das ist in der Tat nicht so. Deshalb gibt es kein Entstehen. Man sieht das Urgetreide nicht vergehen, warum? Wenn es vergangen wäre, gäbe es kein heutiges Getreide. Da es in der Tat das heutige Getreide gibt, gibt es kein Vergehen.[7]

Dies ist eines der vielen Gleichnisse zur Beschreibung der mittleren Sicht im Buddhismus. Mit dem Satz „Man sieht das Urgetreide am Anfang der Äonen nicht entstehen“ meint Pingala nicht, dass es kein erstes Getreide gegeben hätte, sondern dass die Bedingung oder das Potential zur Entfaltung des ersten Getreides von Anfang an gegeben haben muss, sodass ein Getreide sich entwickeln kann. „Nicht Entstehen“ in diesem Sinn heißt „von Anfang an gegeben“. Pingala erklärt das „Entstehen“ mit dem Satz „Wenn das heutige Getreide ohne das Urgetreide zustande gekommen wäre, dann könnte dieses als entstanden gesehen werden. “ „Entstehen“ heißt für ihn daher, wenn etwas von selbst ohne Bedingung zustande kommt, was aus seiner Sicht eben nicht möglich ist. Da das Getreide bei gegebener Bedingung entsteht und mit dem Verfall der Bedingung vergeht, ist es im Grunde leer von Eigenwesen. Dies ist die Sicht der Leerheit bzw. die ultimative Wahrheit. Dennoch ist das Getreide in der Tat entstanden und vergangen, daher ist es nicht „leer ohne nichts“. Dies ist die konventionelle Wahrheit.

Buddha selbst hat mit dem Beispiel der Feuerflamme gelehrt: Man zündet mit einer Flamme einer Kerze eine neue an. Mit der neuen Flamme ist nichts entstanden, weil sie eine Fortsetzung der Flamme ist. Die alte Flamme ist nicht vergangen, da sie die Bedingung für die neue Flamme ist. Die Bedingung oder das Potential zur Feuerflamme muss es aber von Anfang an gegeben (ohne ursprüngliches Entstehen) haben, daher ist es „ohne Entstehen“. Wenn es „nicht entstanden“ ist, so kann es auch „nicht vergehen“. Ein anderes Gleichnis ist der Goldring: Er ist nichts Neues, da er nach wie vor das gleiche Gold wie vorher ist; Schmilzt man den Ring ein, ist auch kein Gold vergangen. Oder wie das Wasser: Ob flüssig, fest oder gasförmig, es ist kein Wasser entstanden oder vergangen.

Hinsichtlich des Reinkarnationskreislaufes (Samsara) reinkarniert einer aufgrund karmischer Bedingungen aus früheren Leben. Das frühere Dasein ist bedingt vergangen, das neue Dasein ist bedingt entstanden. Das ist die konventionelle Wahrheit. Das grundlegende Potential muss es daher von Anfang an gegeben (ohne ursprüngliches Entstehen) haben, daher ist es „nicht entstanden“ und kann nicht „vergehen“. Kein Entstehen und kein Vergehen ist die ultimative Wahrheit. Das bedingte Entstehen und Vergehen der Formen (Getreide, Flamme, Goldring etc.) ist die konventionelle Wahrheit.

Man sieht, dass die zehntausend Dinge unbeständig sind, wie Samenkörner im Moment des Auskeimens zugrunde gehen. Deshalb gibt es keine Beständigkeit. Man sieht, dass die zehntausend Dinge nicht unbeständig sind, wie Keimlinge aus dem Getreidekorn wachsen. Deshalb gibt es keine Unbeständigkeit.[8]

Von der Unbeständigkeit spricht Pingala also, wenn die Form der Dinge sich verändert oder verschwindet. Beständig sind sie dennoch, weil sie als Bedingungen weiterer Entfaltungen fortbestehen. Weder beständig noch unbeständig ist daher die ultimative Wahrheit. Die Vergänglichkeit der Dinge ist die konventionelle Wahrheit.

Man sieht, dass die zehntausend Dinge nicht einheitlich sind, wie die Körner ungleich den Keimlingen sind. Wenn sie gleich wären, dann wären sie einheitlich. Das ist in der Tat nicht der Fall, daher sind sie nicht einheitlich. Man sieht, dass die zehntausend Dinge nicht differenziert sind. Denn warum sagt man: Das sind Getreidekeimlinge, -stängel und -blätter, aber nicht: Das sind Baumkeimlinge, -stängel und -blätter? Deshalb sind sie nicht differenziert.[9]

Ungleich ist also nur die Erscheinungsform, undifferenziert sind sie insofern, dass sie die gemeinsame Bedingung, auf Basis welcher sie zur Entfaltung kommen, teilen. Weder einheitlich noch differenziert ist daher die ultimative Wahrheit. Die unterschiedlichen Formen der Dinge sind die konventionelle Wahrheit.

Man sieht, dass die zehntausend Dinge nicht gekommen sind, genauso wie die Keimlinge nicht von woanders in das Getreidekorn gekommen sind, so wie Vögel auf einem Baum landen. Da es in der Tat nicht so ist, gibt es kein Kommen. Man sieht, dass die zehntausend Dinge nicht gehen, genauso wie die Keimlinge nicht, von den Körnern weggehen, so wie die Schlangen, die aus ihren Höhlen kriechen. Da es in der Tat nicht so ist, gibt es kein Gehen.[10]

Mit der gegebenen Bedingung erscheinen, mit dem Verfall der Bedingung verschwinden: Es gibt daher kein Kommen und Gehen unabhängig von der zugrundeliegenden Ursache. Das bedingte Kommen und Gehen ist daher die konventionelle Wahrheit. Dass keine dieser Existenzen selbständig kommen und gehen können, liegt darin, dass sie leer von Eigenwesen sind. Daher ist nichts gekommen und nichts gegangen: Dies ist die ultimative Wahrheit. Mit dieser Sicht soll eine Anhaftung an einseitigen Sichtweisen verhindert oder aufgelöst werden. Bei den nächsten Versen geht Nagarjuna näher auf die Frage, wie denn alles entstanden sei, ein:

Alle Phänomene sind weder von selbst
Noch von anderen
Auch nicht von beiden
auch nicht ohne Ursache entstanden
Daher wisse
Sie sind ohne Entstehen[11]  


Dazu wieder die Erklärung von Pingala:

Keines von den zehntausend Dingen ist von selbst entstanden. Es müssen die Bedingungen dazu gegeben sein. Wenn die Phänomene von selbst entstünden, dann würde jedes Phänomen zwei Körper haben: einen Geschaffenen und einen Schaffenden. Wenn sie ohne Ursachen von selbst entstehen, dann würde es heißen, sie könnten ohne jegliche Bedingung sich selbst endlos vermehren. Ohne ein Selbst gibt es kein anderes. Wenn es kein Entstehen von selbst gibt, dann gibt es auch keine Schaffung durch einen anderen. Aus diesen Gründen kann auch kein Selbst gemeinsam mit anderen etwas schaffen. Wenn die zehntausend Dinge ohne Ursache entstehen können, dann hieße es, dass sie beständig existieren könnten. Das ist aber nicht der Fall. Ohne Ursache keine Folge. Wenn es Folgen ohne Ursachen gäbe, dann könnten die Großzügigen und Ethischen in die Höllenwelten kommen, und die Bösartigen in die Himmelswelten gelangen.[12]


Das war ein kurzer Einblick in die Abhandlung der mittleren Betrachtung. Die Mitte ist also weder das eine noch das andere: Alles Sein ist nur die Manifestation von Bedingungen und ist somit leer von Eigenwesen. Vergleichbar ist diese Idee mit der daoistischen Lehre des Mystischen, dass alles Sein dem Nichts entsprungen sei. Guo Xiangs Aussagen wie z. B. „Was die Dinge hervorbringt, ist [selbst] kein Ding, die Dinge entstehen daher von selbst.“ deutet ebenso auf die Leerheit alles Seins hin. In der Tat haben viele buddhistische Gelehrten damals solche daoistische Ideen zur Erläuterung der buddhistischen Lehre benutzt. Ein Unterschied liegt nur darin, dass die Buddhisten die karmischen Bedingungen als die Ursache der Entstehung definierten, während die Daoisten die Entstehung aus dem Nichts nicht näher erläuterten und blieben bei der unklaren Aussage „Alles manifestiert sich eigenständig im Mystischen“.[13] Das vom Karma bedingte Entstehen und Vergehen ist jedoch auch nur die konventionelle Wahrheit. Aus Sicht der ultimativen Wahrheit gibt es eben kein Entstehen und Vergehen auf der leeren Grundlage alles Seins.


Die buddhistische „Leerheit“ kann genauso wie das daoistische „Nichts“ leicht nihilistisch als „leer ohne nichts“ missverstanden werden. Genau mit diesem Missverständnis räumt die Abhandlung der mittleren Betrachtung auf. Das Sein ist bedingt existent, eben genau deshalb auch bedingt leer. Das entspricht der Aussage von Guo Xiang: Das Nichts kann sich daher nicht zum Sein verwandeln, das Sein kann sich auch nicht zum Nichts verwandeln. Wenn das Sein zu Nichts werden könnte, dann würde aus dem Nichts also auch ein Sein. Deshalb: Kann das Sein sich nicht zu Nichts verwandeln, dann hat es nie kein Sein gegeben, dieses besteht ständig.[14] Genau aus dieser Sicht ist die Leerheit im buddhistischen Sinn auch nicht nihilistisch als „leer ohne nichts“ zu verstehen. Aus dieser Sicht ist der Kreislauf von Leben und Tod zwar auch „leer“, aber nicht nihilistisch. Aus der Sicht der Leerheit gibt es weder Karma noch kein Karma, weder Samsara noch kein Samsara, weder Erwachen noch kein Erwachen, weder Entstehen noch Vergehen. Die daoistische Philosophie erwähnt zwar kein Leben nach dem Tod, aber die gleiche Sicht zur Überwindung von Tod, so z. B. das Zitat von Zhuangzi: Gibt es keine Vergangenheit und Gegenwart, ist er imstande, ins Todlose und Leblose einzutreten. Was das Leben tötet, stirbt nicht, was das Leben hervorbringt, lebt nicht.[15]

Bevor Kumarajiva und seine Schüler Nagarjunas Schriften übersetzt und erläutert hatten, gab es unter den buddhistischen Gelehrten Chinas unterschiedliche Auffassungen über die Leerheit. Laut dem Bericht von Sengzhao 僧肇 (384-414 n. Chr.), einem der bedeutendsten Schüler Kumarajivas, gab es zu seiner Zeit drei Schulen, welche aus seiner Sicht die Leerheit falsch interpretiert hatten. Er räumte mit seiner „Abhandlung des Sengzhao“ mit diesen falschen Ansichten auf. Durch die Auseinandersetzung mit diesen zumeist fadendünnen Abweichungen kommt man der wahren Bedeutung der buddhistischen Leerheit näher. 

–> Fortsetzung: Teil 18: Sengzhaos Abhandlung zur Shunyata (Leerheit)


[1] 龙树菩萨者尊其人也。又初句简二边之法也。后句别小乘之人也。所言中论者玄义具述。”——《中观论疏 隋 吉藏撰 中论序疏》

[2] 善逝涅槃后,未来世当有,持于我法者, 南天竺国中,大名德比丘,厥号为龙树,能破有无宗 —— 《楞伽经﹒卷六﹒偈颂品》

[3] 夫滯惑生於倒見。三界以之而淪溺。偏悟起於厭智。耿介以之而致乖。故知大覺在乎曠照。小智纏乎隘心。照之不曠。則不足以夷有無一道俗。知之不盡。則未可以涉中途泯二際。道俗之不夷。二際之不泯。菩薩之憂也。是以龍樹大士。析之以中道。——《中論·釋僧叡序》

[4] 今所出者。是天竺梵志名賓伽羅。秦言青目之所釋也。其人雖信解深法。而辭不雅中。其中乖闕煩重者。法師皆裁而裨之。於經通之理盡矣。——《中論·釋僧叡序》

[5] 欲斷如是等諸邪見令知佛法故。先於聲聞法中說十二因緣。又為已習行有大心堪受深法者。以大乘法說因緣相。所謂一切法不生不滅不一不異等。畢竟空無所有。如般若波羅蜜中說。佛告須菩提。菩薩坐道場時。觀十二因緣。如虛空不可盡。佛滅度後。後五百歲像法中。人根轉鈍。深著諸法。求十二因緣五陰十二入十八界等決定相。不知佛意但著文字。聞大乘法中說畢竟空。不知何因緣故空。即生疑見。若都畢竟空。云何分別有罪福報應等。如是則無世諦第一義諦。取是空相而起貪著。於畢竟空中生種種過。龍樹菩薩為是等故。造此中論。——《中論·觀因緣品第一》

[6] 不生亦不滅 不常亦不斷 不一亦不異 不來亦不出 ——《中論·觀因緣品第一》

[7] 世間眼見劫初穀不生。何以故。離劫初穀。今穀不可得。若離劫初穀有今穀者。則應有生。而實不爾。是故不生。世間眼見劫初穀不滅。若滅今不應有穀而實有穀。是故不滅。——《中論·觀因緣品第一》

[8] 世間眼見萬物不常。如穀芽時種則變壞。是故不常。世間眼見萬物不斷。如從穀有芽。是故不斷。——《中論·觀因緣品第一》

[9] 世間眼見萬物不常。如穀芽時種則變壞。是故不常。世間眼見萬物不斷。如從穀有芽。是故不斷。——《中論·觀因緣品第一》

[10] 世間眼見萬物不一。如穀不作芽芽不作穀。若穀作芽芽作穀者。應是一。而實不爾。是故不一。世間眼見萬物不異。若異者。何故分別穀芽穀莖穀葉。不說樹芽樹莖樹葉。是故不異。——《中論·觀因緣品第一》

[11] 諸法不自生 亦不從他生 不共不無因 是故知無生 ——《中論·觀因緣品第一》

[12] 不自生者。萬物無有從自體生。必待眾因。復次若從自體生。則一法有二體。一謂生。二謂生者。若離餘因從自體生者。則無因無緣。又生更有生生則無窮。自無故他亦無。何以故。有自故有他。若不從自生。亦不從他生。共生則有二過。自生他生故。若無因而有萬物者。是則為常。是事不然。無因則無果。若無因有果者。布施持戒等應墮地獄。十惡五逆應當生天。——《中論·觀因緣品第一》

[13] 是以涉有物之域,虽复罔两(影子外的虚影),未有不独化于玄冥之境者也。故造物者无主而物各自造。物各自造而无所待,此天地之正也。”——《郭象 庄子注 齐物论注》

[14] 非惟无不得化而为有也,有亦不得化而为无矣。是以有之为物,虽千变万化,而不得一为无也。不得一为无,故自古无未有之时而常存也。——《郭象 庄子注 (知北游)》

[15] 是以涉有物之域,虽复罔两(影子外的虚影),未有不独化于玄冥之境者也。故造物者无主而物各自造。物各自造而无所待,此天地之正也。”——《郭象 庄子注 齐物论注》


(Mit Korrekturen von Ursula Presslauer, Birgit Seissl, Roland Parth, Jörg Hollenstein und Alexander Maurer)



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