Ein Parabel aus dem daoistischen Werk „Huainanzi“ (chin. 淮南子, dt. Meister von Huainan), 18. Kapitel
Es war einmal ein Mann im alten China, der an der Grenze zu den Nomaden lebte, wo die reitenden Krieger der Nomaden immer wieder ins Land einfielen. Er musste daher bereit sein, jederzeit zum Heer einberufen zu werden. Wie nahezu jede Familie in der Region züchtete er Pferde für den Bedarf eines möglichen Kriegseinsatzes.
Eines Tages entlief ihm ein Pferd, und alle Leute bedauerten ihn. Sein Vater, ein alter weiser Mann, jedoch sagte: „Wer weiß, ob das nicht Glück bringt?“
Ein paar Monate später kehrte der verlorene Schimmel von selbst zurück und brachte sogar ein Wildpferd von den Nomaden mit. Als die Nachbarn die Nachricht hörten, kamen sie alle, um zu gratulieren. Doch sein Vater sagte erneut: „Wer weiß, ob das nicht Unglück bringt!“
Der Sohn ritt freudig auf dem Wildpferd. Doch das untrainierte Pferd war alles andere als folgsam und ließ sich nicht zähmen. Der Sohn stürzte vom Pferd und brach sich ein Bein. Alle Leute bedauerten ihn. Sein Vater jedoch sprach wieder: „Wer weiß, ob das nicht Glück bringt?“
Kurz darauf fielen die Nomaden über die Grenze ein. Die kräftige erwachsenen Männer zogen alle in den Kampf. Die meisten kamen dabei ums Leben oder wurden verschollen. Der Sohn blieb davon verschont, weil er wegen seines gebrochenen Beins nicht zum Heer einberufen wurde.
Glück und Unglück sind daher relativ. Jedes Ereignis kann die Bedingung für ein weiteres sein. Im Glück kann der Keim fürs Unglück liegen und umgekehrt. Wer weiß, ob das Unglück nicht Glück bringt? Es heißt doch, bevor etwas besser wird, wird es oft noch einmal schlechter, wie die tiefe Finsternis vor dem Morgengrauen.
Kategorien:Anekdoten, Daoismus / Taoismus
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