Anekdote: Dort, wo die Welt entsteht

In einem abgelegenen Bergtal, wo der Nebel wie Atem zwischen den Kiefern schwebte und die Stille selbst zu lauschen schien, stand ein kleiner Tempel aus Holz und Stein. Dort lebten nur zwei Menschen: ein alter Zen-Meister mit ruhigen Augen – und sein junger Schüler, voller Staunen, voller Fragen.

Eines Morgens, als die Glocke verklungen war und der Tee in der Schale dampfte, fragte der Junge:
„Meister, du sagst oft: Alles entsteht aus dem Geist. Dass die Welt erscheint, so wie unser Inneres sie sieht. Aber wie kann das sein? Was ist dieser Geist, der so viel hervorbringt?“

Der Meister lächelte, blickte kurz in die Ferne, dann sagte er sanft:
„Schließe deine Augen. Stell dir vor, du erschaffst in deinem Inneren einen gewaltigen Berg – schneebedeckt, mächtig, durchweht vom Wind.“
Der Schüler schloss die Augen. Nach einer Weile öffnete er sie wieder und sagte:
„Ich habe ihn gesehen. Der Berg ist da.“
„Gut“, sagte der Meister. „Jetzt stelle dir auf diesem Berg einen einzigen Grashalm vor – zart, biegsam, lebendig.“
Wieder schloss der Junge die Augen, verweilte einen Moment – und nickte.
„Auch er ist da.“
„Nun stelle dir vor, du gehst von hier bis zum Eingang des Tempels.“
„Ich bin dort“, sagte der Schüler sofort.
„Dann geh weiter – bis zum Horizont, so weit du denken kannst.“
„Ich bin angekommen.“
Der Meister sah ihn an und fragte:
„Wer hat all das erschaffen – den Berg, den Halm, den Weg? War es dein eigener Geist, oder der eines anderen?“
„Es war nur meiner“, sagte der Junge.
„Und war der Weg zum Tempeltor kürzer als der bis zum Horizont?“
„Sie fühlten sich gleich an.“
„Und hast du beim großen Berg mehr von deinem Geist gebraucht als beim kleinen Halm?“
Der Schüler dachte nach, dann sagte er:
„Ich habe beides mit ganzem Herzen erschaffen.“
Der Meister nickte und sprach:
„So siehst du:
Was groß scheint oder klein, fern oder nah – es ist dein Geist, der es so erscheinen lässt.
Er braucht keine Zeit, um zu reisen, keine Mühe, um Welten hervorzubringen.
Er ist nicht gebunden an Ort oder Maß.
Ein Berg oder ein Halm, ein Schritt oder tausend – alles entsteht dort, wo du bist.“

Der Meister hielt kurz inne, sah den Schüler ruhig an und sprach mit sanfter Klarheit:
„Die Welt ist nicht draußen. Sie ist hier – wo dein Geist sie formt.“



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