Anekdote: Der Duft der Nachtjasmin

Ein Dichter hatte einen Freund, einen Zen-Meister, der in einem schlichten Haus lebte, wo der Wind durch Bambus sprach und die Stille nicht leer war.

Eines Tages kam der Dichter zu ihm, mit schwerem Schritt und müdem Blick. Sie saßen beisammen, tranken Tee, und lange sagte niemand etwas. Dann, fast wie nebenbei, sprach der Dichter:

„Ich weiß manchmal nicht, für wen ich noch schreibe. Ich tue so vieles, aber es scheint, als würde es nur zählen, wenn es jemand sieht. Und manchmal sieht eben keiner hin.“

Der Meister hörte zu, ohne einzugreifen. Er legte die Teeschale beiseite, stand auf und öffnete das Fenster.

„Komm“, sagte er, und der Dichter trat an seine Seite.

Der Meister zeigte auf eine Pflanze im Hof, deren Blätter vom Abendlicht kaum mehr berührt wurden. Zwischen ihnen öffneten sich leise die ersten Blüten.

„Weißt du, was das ist?“

Der Dichter beugte sich leicht vor.

„Nachtjasmin“, sagte er.

Der Meister nickte.

„Sie beginnt sich erst zu öffnen, wenn der Tag sich zurückzieht.“

Der Dichter schwieg.

„Und doch“, fuhr der Meister fort, „ist ihre Blüte nicht weniger vollständig. Kein Applaus, kein Blick, nur das Dunkel, das sie trägt. Manche Dinge brauchen nicht den Tag, um ganz zu sein.“

Der Dichter sah die Blüten, die still in die Nacht hinein dufteten, nachdenklich an.

Der Meister sprach weiter, als würde er eher dem Wind erzählen als seinem Gast:

„Viele geben das Maß ihrer Freude aus der Hand, tragen ihr Leben wie ein Kleid, das anderen passen soll. Aber wer sich allen zeigt, verliert sich leicht selbst. Wer immer nur der Sonne folgt, kennt das Leuchten der Nacht nicht.“

Der Dichter sagte lange nichts.
Doch als er ging,
ging er ein wenig aufrechter und hörte
– ganz leise
– seine eigene Stimme.

In der Luft hing noch ein Hauch von Nachtjasmin.
Nicht stark, nicht dringend
– aber da.



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