Die Nacht lag über dem Dorf wie ein tiefer Brunnen, in dem jedes Licht zu ertrinken schien.
Ein kühler Wind strich über die Felder, glitt an den Mauern entlang und legte sich zwischen die Steine des Weges.
Der blinde Sheng hatte den Tag bei einem Verwandten verbracht. Beim Abschied, als die Dunkelheit schon ganz nah war, reichte ihm dieser eine alte Laterne, deren warmer Schein die Hände erhellte.
„Es ist spät, der Weg ist dunkel. Trag diese Laterne mit dir.“
Sheng hielt inne. Ein Ärger regte sich in ihm.
„Du weißt doch, dass ich blind bin. Wozu eine Laterne? Willst du mich verspotten?“
Einen Augenblick war es still. Dann sprach der Verwandte ruhig, ohne Groll:
„Die Laterne ist nicht für dich allein. Sie ist für die anderen, damit sie dich im Dunkeln sehen und dich nicht anstoßen.“
Sheng schwieg. Die kleine Flamme zitterte im Wind, und mit ihr sein Zorn.
Er spürte, wie rasch man gute Absichten in Spott verwandeln kann, wenn man vorschnell urteilt.
Er hob die Laterne und ging in die Nacht.
Das Licht vor ihm war nicht groß, aber es reichte, um zu verstehen:
Manchmal braucht es nur einen Atemzug länger, um im Guten das Gute zu erkennen.
Kategorien:Anekdoten

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