Die Flut queren (SN 1.1)

Besprechung buddhistischer Themen anhand auserwählter Pali-Sutten

1. Einleitung

2. Die Flut queren (SN 1.1)

In der „Sammlung der gruppierten Lehrreden“ (Samyutta Nikaya) ist das erste von fünf Büchern das „Buch mit Versen“ (Sagatha-Vagga), es beginnt mit der „Gruppierung mit den Gottheiten“ (Devata-Samyutta). Der erste Abschnitt davon lautet „Das Schilfrohr“ (Nala Vagga) –  die erste Lehrrede wiederum davon ist unsere gesuchte: „die Flut queren“ (Oghatarana). Der Schauplatz ist bei Savatthi, im Jetawald, Anathapindikas Park.

Alle Lehrreden dieser ersten Gruppierung des Buches mit Versen haben dasselbe dramaturgische Setting: die Protagonisten sind Gautama Buddha und eine Devata „ von staunenswerter Schönheit“, also eine Gestalt der niederen (Menschenähnlichen) Götterwelten, die ihn „in fortgeschrittener Nacht“ besuchen kommt, „ den ganzen Jetawald mit ihrem Glanz erleuchtend“. Die indischen Devatas entsprechen genau den Nymphen der antiken griechischen Mythologie.  In jeder Lehrrede des Abschnitts „Schilfrohr“ tritt nun jeweils eine andere Devata auf.

Diese mystische Stimmung soll uns Leser darauf einstimmen, dass die nun folgenden kurzen Dialoge wesentliche Aspekte der Buddhalehre kurz und prägnant darstellen. Die Bewohner der Götterwelten wären laut der altindischen Mythologie eben gerade nicht auf menschliche Sprache angewiesen, um mit dem Buddha zu sprechen. Die Szenerie ist also so komponiert, um uns Leser in Stimmung zu versetzen, die uns für die folgenden wichtigen Verse aufnahmebereit macht. Die Devata, deren Namen wir nicht erfahren, spricht Gautama so an: „Wie, Marisa, konntet ihr die Flut überqueren?“

Marisa ist eine ehrenvolle Anrede, wie sie indische Könige untereinander verwendeten. Die Devata hat also von vorneherein schon eine hohe Achtung vor Gautama. Die Flut (Ogha) steht für das Anhaften und das Begehren, welche die Wesen überfluten und wegschwemmen – die Kommentare zählen vier auf: die Flut der Sinnlichkeit (Kamogha), die Flut der Daseinsgier (Bhavogha), die Flut der Ansichten und Meinungen (Ditthogha) und die Flut der Ignoranz (Avijjogha).

Der Buddha: „Durch NichtVerweilen, mein Freund, und durch NichtStreben querte ich die Flut.

Die Devata darauf: „ Aber wie denn das, Marisa?“

Die Antwort Gautamas: „Wenn ich verweilte, mein Freund, dann sank ich ab; aber wenn ich mich abmühte, wurde ich abgetrieben. Also auf diese Weise war es, dass ich weder durch Nachlassen noch durch Streben die Flut querte.“

So fasst also der Buddha Gautama seinen Weg zum Erwachen kurz zusammen. Das klingt nicht umsonst wie ein Zen-Koan, denn wie soll man ein Wasser durchschwimmen ohne Schwimmbewegungen und ohne stillzustehen? Es sind treffende, ausdrucksstarke Bilder: Zu viel Nachlässigkeit in der Übung führt unweigerlich zum Versinken im Alltag. Schlechte Gewohnheiten und Ablenkungen zehren dann alles Erreichte wieder auf, und man liegt dann am Grund der emotionalen „Fluten“ leblos herum und kommt nicht vom Fleck. Anstrengung und Ehrgeiz scheinen demgegenüber doch positiv zu sein? Die „Gefahr des Abtreibens“ ist es aber, das Ziel aus den Augen zu verlieren. Das geschieht, wenn Übung zum Selbstzweck wird. Es ist auch ein Widerspruch, mit Versessenheit auf ein zu erreichendes Ziel zu meditieren. Das Erwachen stellt sich nicht ein, nur weil man in perfekter Haltung und ewig lange sitzen kann. Alle Glieder des Achtfachen Pfades können selbst zu Objekten der Anhaftungen werden. Dann ist man in einer Endlosschleife gefangen, bis man irgendwann endlich aufgibt, also erst recht untergeht so wie der Nachlässige. Was Gautama also anspricht , sind sein „mittlerer Weg“ zwischen Unterforderung und Überforderung und die Kunst des Tuns, ohne zu tun. Dazu benötigt man ein feines Unterscheidungsvermögen. Den schmalen Grat dazwischen gilt es, jeweils für sich herauszufinden. Es ist leicht, auf einer der beiden Seiten abzustürzen, aber schafft man es genau in der Mitte zu bleiben, wird der „schmale Grat“ zur „Autobahn zum Erwachen“.

Dies ist die Bedeutung der Antwort Gautamas auf die Frage der Devata. Sie spricht nun, zufrieden und erfreut über die Leistung Gautamas, die Verse:

Nach langer Zeit nun endlich sehe ich

Cirassam vata passami

einen Brahmanen, völlig gestillt

brahmanam parinibbutam

der durch NichtNachlassen, NichtAnstrengen

Appatittham anayuham

Anhaftungen an die Welt überquert

tinnam loke visattikan“

Die Originalverse sollen einen Einblick in die Pali Sprache geben und den Rhythmus der Verse zeigen. Auf Deutsch gehen die Reime ja verloren.

Mögliche Reflexionen aus der Lehrrede: wie steht es um meine „Flussüberquerung“? Bin ich womöglich abgetrieben? Lieg ich schon lange am Flussboden? Oder verausgabe ich mich gerade mit zu hohem Tempo?

–> Fortsetzung: 3. Die drei Glaubensstandpunkte (AN 3.61)



Kategorien:Palikanon - Nikayas (Agamas)

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