Besprechung buddhistischer Themen anhand auserwählter Pali-Sutten
1. Einleitung
2. Die Flut queren (SN 1.1)
3. Die drei Glaubensstandpunkte (AN 3.61)
4. Die unzulänglichen Ansichten (AN 10.93)
In diesem Beitrag sprechen wir über die 93. Lehrrede im Zehnerbuch der Sammlung der nummerierten Lehrreden Gautama Buddhas (Anguttaranikaya), „die unzulänglichen Ansichten“ – Kimditthikasutta.
Die Hauptperson ist der wohlhabende Kaufmann Anathapindika, uns ja schon bekannt als einer der großzügigsten Förderer und Anhänger Gautamas. Die Erzählung beginnt an einem frühen Morgen in der Metropole Savatthi. Anathapindika ist wieder einmal unterwegs, um Gautama und die Bhikkhus aufzusuchen, entscheidet sich aber, dass es noch zu früh am Tag dafür ist. Er will die Zeit nutzen, um die „andersgläubigen Wanderasketen“ zu besuchen und, falls sie Lust haben, Gespräche mit ihnen zu führen. Der Text erzählt, wie Anathapindika freundlich aufgenommen wird, und die Diskussion wird sogleich mit einer Frage eröffnet:
„Sage, Hausvater, welche Ansichten hat der Samana Gautama?“
„Nicht kenne ich, ihr Ehrwürdigen, alle Ansichten des Erhabenen.“
Anathapindika ist also durchaus vorsichtig und eher zögerlich beim Sprechen über die Buddhalehre, obwohl er, wie sich gleich zeigen wird, sehr gut darin Bescheid weiß. Nachdem die Wanderasketen auch nach den Ansichten der Bhikkhus gefragt haben und die gleiche Antwort erhielten, formulieren sie die Frage so: „Was sind denn nun Anathapindikas eigene Ansichten?“ Doch dieser will immer noch nicht: Zuvor sollen die Wanderasketen ihre eigenen Ansichten darlegen, dann wird er antworten. Warum windet sich Anathapindika so? Eine mögliche Erklärung: Er achtet beim Sprechen über die Buddhalehre sehr auf die „rechte Rede“. Er will offensichtlich nicht einfach darauf los dozieren, sondern zuerst einen Eindruck vom Standpunkt seiner Gesprächspartner gewinnen.
Nun hört er ein buntes Programm aller Doktrinen, die im damaligen Indien so im Umlauf waren:
„Ewig ist die Welt / Nicht Ewig ist die Welt / Endlich ist die Welt / Unendlich ist die Welt / Leib und Leben sind eins / Leib und Leben sind verschiedene / der Tathagatha besteht nach dem Tod/ besteht nicht nach dem Tod…. Das allein ist wahr, alles andere ist Unsinn“.
Man beachte den emotionalen Schlusssatz, mit dem jeder der unterschiedlichen Sprecher seine Ansicht untermauert! Ansichten übrigens, die sich gegenseitig ausschließen. Da ist es immerhin noch lobenswert, dass diese Wanderasketen zusammenlebten und sich nicht an die Gurgel gingen.
Die Wanderasketen stecken offensichtlich tief in der menschlichen Neigung, sich Metaphysik zur Welterklärung auszudenken. Wie steht der Buddha zu alldem? Schließt er sich einer dieser Ansichten an? Anathapindika antwortet so:
„Der da, ihr Ehrwürdigen, eine dieser Ansichten vertritt und erklärt, diese allein sei wahr, alles andere aber Unsinn, dessen Ansicht ist ihm entweder infolge eigener unweiser Erwägungen aufgestiegen oder durch eines anderen Belehrung veranlasst.“
„Unweise Erwägung“ ist ein ganz wichtiger Begriff in der Buddhalehre. „Ayonisomanasikarahetu“ lautet an dieser Stelle das Wort im Palitext: A- ist die Verneinung. Yoniso ist gründlich, tiefgreifend. Wörtlich steht das Wort für die weibliche Vagina im Sinne von „vom Mutterschoss, von Geburt an“. Zusammen steht „a-yoniso“ also für „nicht von Mutterschoss, nicht von Geburt an“ im Sinne von „nicht gründlich, nicht tiefgreifend“. Und Manasikara ist das Betätigen des Manas, des Bewusstseins, das Nachdenken eben. Zusammen ergibt das Wort die Bedeutung „nicht gründliches oder tiefgründiges Nachdenken“, was im obigen Zitat als „unweise Erwägung“ übersetzt wurde. Gründlich Nachdenken ist in der Buddhalehre positiv und gilt als heilsam. Aber hier das gegenteilige seichte, nachlässige „Nachdenken“ ist die Wurzel vielen Übels und unheilsam. Unter anderem ist es eben auch der Ursprung aller möglichen Weltanschauungen und Gedankengebäude. Anathapindika fährt fort:
„Jene Ansicht aber ist geworden, zusammengefügt, ersonnen, bedingt entstanden. Doch was auch immer geworden ist, zusammengefügt, ersonnen, bedingt entstanden, das ist vergänglich. Was vergänglich ist, das ist Dukkha. Und an dem, was Dukkha ist, eben daran hängt jener Ehrwürdige, eben dem ist jener Ehrwürdige verfallen.“
Diese Erklärungen werden von den Zuhörern akzeptiert. Nun kommen die Wanderasketen aber auf ihr ursprüngliches Anliegen zurück: Anathapindikas eigene Ansichten soll er ihnen darlegen. Er kommt demnach:
„Was auch immer, ihr Ehrwürdigen, geworden ist, zusammengefügt, ersonnen und bedingt entstanden, das ist vergänglich. Was vergänglich ist, das ist Dukkha. Und was Dukkha ist, das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst. Das, ihr Ehrwürdigen, ist meine Ansicht.“
Nun können wir uns die Antwort der Wanderasketen darauf gut vorstellen: Natürlich entgegnen Sie sofort, diese Ansicht sei aufgrund unweiser Überlegungen aufgestiegen! Was kann Anathapindika da jetzt antworten? In anderen Worten, was zeichnet die Buddhalehre eigentlich vor allen anderen Lehren aus? Er antwortet so:
„Das habe ich der Wirklichkeit gemäß in rechter Weisheit klar erkannt. Und überdies kenne ich die Entrinnung daraus der Wirklichkeit gemäß.“
Schauen wir uns diese Antwort genauer an. Es ist ein persönliches Erlebnis, das Anathapindika anführt. Etwas selbst klar erkennen ist etwas ganz anderes als dem Buddha etwas nachplappern. Buddhistische Lehrinhalte sollen also im Leben ganz persönlich erfahren werden können. Zwei genauere Beschreibungen werden dazu noch gegeben: der Wirklichkeit gemäß, also nüchtern und emotionsfrei etwas betrachten „wie es ist“. Und dazu braucht es – oder anders ausgedrückt, das ist bereits rechte Weisheit (Prajna). Nebenbei bemerkt man hier, wie viel ein reicher Kaufmann wie Anathapindika auf dem buddhistischen Weg erreichen konnte, ohne den Mönchsweg zu wählen. Denn wenn er sagt, er kennt „die Entrinnung daraus der Wirklichkeit gemäß“, heißt das, er ist selbst „entronnen“, also erwacht? Oder kennt er nur die Methoden, nach denen die erwachten Mönche das Ziel erreicht haben? Was heißt „Erwachen“ eigentlich? Nun, diese schwierige Frage lassen wir beiseite. Jedenfalls ist diese Lehrrede eine weitere Erinnerung daran, dass die Buddhalehre ihren Platz in der Wirklichkeit des Einzelnen hat, statt eine Weltanschauung zu sein. Und sie ist ein weiterer schöner Beleg für einen „Laienbuddhismus“, der im gewöhnlichen Alltagsleben statt in der Abgeschiedenheit stattfindet.
Die Lehrrede endet mit einer „Nachbereitung“ des Gesprächs, indem Anathapindika schließlich wie von Anfang an geplant Gautama aufsucht und ihm das Geschehen erzählt. Der Buddha meint abschließend:
„Recht so, Hausvater, recht so! Auf diese Weise solltest du öfter jene Toren im Einklang mit dem Dharma gründlich zurechtweisen.“
Es ist mir zwar kein einziger Fall bekannt, in dem Gautama seine Gesprächspartner direkt herabsetzt, aber gegenüber seinen Schülern scheut er sich nicht, unsinnige Lehren oder wie eben hier Toren auch als solche zu bezeichnen. Für ihn ist durchaus nicht jede Meinung oder Ansicht gleich viel wert, sein Urteil über seine Zeitgenossen reicht von „gut getroffen und im Wesentlichen richtig“ bis zu „vollendete Narrenrede“.
(Übersetzung der Zitate auf Basis jener von Nyanatiloka mit Abänderungen vom Autor)
–> Fortsetzung: 5. Das Gleichnis der Trommel
Kategorien:Palikanon - Nikayas (Agamas)

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