Anekdote: Die zerbrochene Vase

Ein klarer Himmel wölbte sich über das alte Kloster, als Meister Sojun seine Sandalen anzog und sich auf den Weg machte. Bevor er das Tempeltor hinter sich schloss, wandte er sich an seine Schüler.

„Übt fleißig“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Und haltet den Tempel in Ehren.“

Die jungen Mönche verneigten sich tief. Unter ihnen war auch Ikkyū, ein neunjähriger Junge mit wachem Geist.

Die große Halle konnte ihn an diesem Tag nicht halten. So schlich er leise durch die Gänge, bis er die Abtstube erreichte – und dort seinen älteren Mönchsbruder weinend vorfand.

„Was ist geschehen?“, fragte Ikkyū.

Der Ältere hob den Kopf, seine Lippen zitterten. „Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.“

„Aber wir sind Zen-Schüler“, sagte Ikkyū, „wir sollten Ruhe bewahren.“

„Du verstehst nicht!“ Die Stimme seines Bruders bebte. „Im Schrank lag der wertvollste Besitz unseres Meisters. Er bewahrte ihn immer sorgsam auf und betrachtete ihn manchmal heimlich – aber mich ließ er nie sehen, was es war. Heute konnte ich nicht widerstehen. Ich öffnete den Schrank und sah eine wunderschöne Porzellanvase. Ich nahm sie in die Hand, wollte sie bewundern – doch sie entglitt mir und zerbrach!“

Der Junge schlug die Hände vors Gesicht. „Wenn der Meister zurückkehrt, wird er sehr wütend sein … Ich weiß nicht, wie ich das ertragen soll.“

Ikkyū schwieg einen Moment, dann lächelte er.

„Gib mir die Scherben“, sagte er. „Ich übernehme die Verantwortung.“

„Aber … warum?“

„Weil du weinst, und ich nicht.“

Der ältere Bruder rang mit sich, dann übergab er Ikkyū die Scherben. „Ich kann das nicht unvergolten lassen“, flüsterte er. „Der Meister hat mir gedämpfte Brötchen gebracht. Sie gehören nun dir.“

So aß Ikkyū mit Genuss die weichen Brötchen, während die Scherben tief in seiner Robentasche verschwanden.

Als Meister Sojun am Abend zurückkehrte, trat Ikkyū ihm entgegen.

„Meister, ich habe eine Frage: Gibt es einen einzigen Menschen, der nicht sterben muss?“

Der Meister lachte leise. „Dumme Frage, mein Schüler. Alles Leben ist vergänglich. Kein Mensch kann dem Tod entkommen.“

„Ich verstehe. Und wie ist es mit Dingen? Gibt es etwas, das ewig besteht?“

„Nein, auch Dinge sind dem Wandel unterworfen. Alles vergeht, wenn sich die Umstände ändern.“

Ikkyū nickte. „Dann sollte man nicht traurig sein, wenn ein geschätzter Gegenstand zerbricht, oder?“

Der Meister sah ihn aufmerksam an. „Genau so ist es“, sagte er.

Da zog Ikkyū das kleine Bündel aus seiner Tasche und legte es dem Meister in die Hände.

„Meister, dies ist ein Ding, dessen Umstände sich aufgelöst haben.“

Sojun öffnete das Tuch. Die Scherben funkelten matt im Abendlicht.

Der Meister betrachtete sie einen Moment, dann lächelte er sanft. Kein Zorn, keine Strafe.



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