
Ein Wasserträger stieg Tag für Tag den gewundenen Pfad empor, eine schwere Last auf den Schultern. An den beiden Enden seiner hölzernen Trage hingen zwei Krüge – der eine wohlgestaltet, makellos und stark, der andere jedoch von einem feinen Riss durchzogen.
So trug der Mann sein Wasser vom fernen Bach zum Hause seines Herrn. Der unversehrte Krug bewahrte sein edles Gut bis zum letzten Tropfen, während der gesprungene Krug unaufhörlich Wasser verlor und nur halb gefüllt am Ziel anlangte.
Jahre verstrichen, und während der heile Krug stolz auf seine Zuverlässigkeit war, nagte am geborstenen Gefäß eine tiefe Traurigkeit. Einst, da die Last der Scham ihm allzu schwer auf der Seele lag, sprach es mit bebender Stimme zum Wasserträger:
„Ach, Herr, mich quält ein bitteres Leid, und ich kann nicht länger schweigen. Sieh, all die Jahre hast du mich getragen, doch habe ich dich stets betrogen! Mein fehlerhaftes Wesen ließ das Wasser entrinnen, und nie war ich imstande, dir die Frucht deiner Mühe zu bewahren.“
Da hielt der Wasserträger an, legte seine Bürde für einen Moment nieder und blickte mit gütigem Auge auf den betrübten Krug.
„Mein Freund“, sprach er sanft, „sieh doch mit offenen Augen auf den Pfad, den wir gemeinsam gegangen sind.“
Und als sie aufbrachen, da hob der gesprungene Krug zaghaft seinen Blick. Und siehe! Zu seiner Seite wuchs ein Band von Moos und feinen Gräsern, von zarten Blüten, die nur im Schutz des feuchten Bodens gedeihen. Keine üppige Pracht, kein leuchtendes Farbenmeer – und doch ein stilles, sanftes Leben, das aus dem Boden spross, Tropfen für Tropfen genährt.
Sein Herz schlug höher, und doch, als sie das Haus des Herrn erreichten, überkam ihn abermals das alte Weh. „Noch immer“, sprach er bedrückt, „vermag ich nicht, meine Aufgabe ganz zu erfüllen.“
Doch der Wasserträger legte die Hand auf ihn und sprach mit jener ruhigen Stimme, die das Leben selbst zu durchdringen schien:
„Glaubtest du, ich hätte deine Schwäche nicht erkannt? Wähntest du, deine Fehler seien mir verborgen geblieben? Sieh, ich habe sie nicht nur gesehen, sondern mich ihrer bedient. Als ich deines Risses gewahr wurde, wählte ich den Wegrand, auf dem sich das zarte Grün ansiedeln konnte. Und Tag für Tag hast du es mit deinem sanften Tropfen genährt. Ohne dich bliebe der Weg karg, ohne dich schimmerten nicht jene feinen Blüten im Schatten der Bäume. Sag mir nun – bist du wahrlich unvollkommen?“
Da schwieg der gesprungene Krug und sann lange nach. Endlich verstand er: Was er als Makel beklagt hatte, war Segen gewesen. Seine Schwäche hatte Leben geschenkt.
Kategorien:Anekdoten
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