
In den Tagen der Tang-Dynastie lebte ein weiser Zen-Meister mit Namen Zhixian in einem abgelegenen Kloster, wo die Zeit sich leise in das Schweigen der Meditation bettete. Zu ihm kam ein junger Novize, klug von Geist und eifrig in seinem Fleiß, der nichts sehnlicher wünschte, als rasch die höchste Erleuchtung zu erlangen.
„Meister,“ sprach der junge Mönch, „weihe mich in die Geheimnisse der plötzlichen Erkenntnis ein, auf dass ich bald das wahre Wesen aller Dinge durchschauen möge!“
Zhixian betrachtete ihn mit einem sanften Lächeln und erwiderte: „Du bist erst kürzlich in dieses Kloster getreten und hast noch nicht einmal seine Räume und Gänge mit wahrer Achtsamkeit durchschritten. Geh hin und mache dich vertraut mit den Brüdern, die mit dir unter diesem Dach leben. Lerne sie kennen, ihre Stimmen, ihre Wege, ihr Wesen.“
Der junge Novize, von unermüdlichem Eifer getrieben, folgte diesem Rat mit ganzer Hingabe. Tage verstrichen, in denen er mit jedem Mönch des Klosters sprach, ihre Namen sich merkte, ihre Gewohnheiten betrachtete. Dann kehrte er zu seinem Meister zurück und sprach mit leuchtenden Augen:
„Meister, ich habe dein Wort erfüllt. Alle Mönche in diesem Kloster kenne ich nun, von den Ältesten bis zu den Jüngsten. Was ist nun mein nächster Schritt?“
Zhixian neigte leicht den Kopf, musterte ihn mit tiefem Blick und sprach ruhig: „Alle hast du erkannt, sagst du?“
„Ja, Meister, keinen einzigen habe ich vergessen.“
Da schüttelte der Meister sachte das Haupt und sprach: „Einer bleibt noch, den du nicht erkannt hast.“
Der Novize erschrak. „Unmöglich! Ich bin durch jedes Gemach geschritten, habe jede Gestalt gegrüßt. Kein Mensch in diesem Kloster ist mir mehr fremd!“
„Und doch,“ sprach der Meister, „gibt es einen, der dir näher ist als alle anderen, und doch entzieht er sich deinem Blick. Solange du ihn nicht erkannt hast, bleibt dein Weg versperrt.“
Der junge Mönch, von tiefem Zweifel ergriffen, verließ den Raum mit gesenktem Haupt. Er begab sich abermals auf die Suche, fragte die Brüder, durchmaß Gänge und Hallen, doch keiner konnte ihm sagen, wer dieser eine noch Unbekannte sei. Nächtens lag er wach, seine Gedanken kreisten um das Rätsel, doch kein Licht brach durch die Dunkelheit seines Grübelns.
Eines Morgens, als er nach beendeter Meditation zum Fluss trat, um Wasser für die tägliche Speise zu schöpfen, warf er den Eimer ins klare Nass. Da erblickte er, im Spiegel der Wellen, ein Gesicht. Er hielt inne, sein Herz stockte – denn was ihm entgegenblickte, war kein fremdes Antlitz, sondern sein eigenes.
In diesem Augenblick fiel der Schleier von seinen Augen. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen, als er nun verstand, was der Meister ihn hatte lehren wollen.
Er kehrte zurück zu Zhixian, verneigte sich tief und sprach: „Meister, nun habe ich den letzten erkannt.“
Der alte Meister nickte nur, als hätte er es stets gewusst, und der Wind spielte leise mit den Blättern der alten Zeder vor dem Tempel.
Kategorien:Anekdoten
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