Anekdote: Die verlorene Geldtasche – und zwei gerettete Leben

In den letzten Jahren der Guangxu-Ära (1875–1908), als Shanghai im Wandel der Zeiten pulsierte, ereignete sich eine Begebenheit, die von Mund zu Mund weitergetragen wurde, bis sie schließlich ihren Platz in Qingbai Leichao 清裨類鈔 fand. Xu Ke (1869–1928), Gelehrter und Chronist vergessener Geschichten, bewahrte sie in seiner Sammlung auf – ein Echo jener Tage, in denen das Schicksal auf leisen Sohlen kam und Leben für immer veränderte.

Herr Jia arbeitete als vertrauenswürdiger Angestellter in einer ausländischen Handelsfirma in Shanghai. An einem heißen Tag zog er los, um Schulden einzutreiben. Bis zum Mittag hatte er 1.800 Silberstücke gesammelt – eine gewaltige Summe. Müde und durstig kehrte er in ein Teehaus ein, trank hastig einen Tee und machte sich sofort auf den Rückweg.

Zurück im Geschäft traf ihn der Schock: Seine Geldtasche war verschwunden! Panik. Schweiß. Zittern. Sein Chef traute ihm nicht, unterstellte Betrug und drohte mit der Polizei. Jia war am Ende. Diese Summe hätte er nie ersetzen können – er sah sein Leben bereits verloren.

Zur gleichen Zeit saß Herr Yi, ein gescheiterter Geschäftsmann, im selben Teehaus. Seine Firma war bankrott, und er hatte ein Ticket für die Nachmittagsfähre zurück in seine Heimat gekauft. Während er grübelte, bemerkte er eine schwere Geldtasche auf einem Stuhl neben sich. Als er sie öffnete, traute er seinen Augen nicht – lauter glänzende Silberstücke!

Für einen Moment war die Versuchung groß. Dieses Geld hätte sein Leben verändern können. Doch sein Gewissen sprach lauter: „Das gehört mir nicht. Wenn der Besitzer sein Ansehen – oder gar sein Leben – verliert, wäre das meine Schuld.“

Yi entschied sich zu warten.

Stunden vergingen. Gegen Abend stürmte ein blasser, verzweifelter Mann ins Teehaus – Herr Jia, gefolgt von zwei Begleitern. Kaum hatte er das Teehaus betreten, rief er: „Hier saß ich! Hier muss es sein!“

Yi lächelte. „Haben Sie eine Geldtasche verloren?“

Jia starrte ihn ungläubig an und nickte heftig. Als Yi ihm die Tasche reichte, begann er am ganzen Körper zu zittern. „Sie haben mir das Leben gerettet! Ohne Sie hätte ich mich heute Nacht erhängt!“

Er bot Yi eine Belohnung an – zuerst ein Fünftel des Geldes, dann ein Zehntel, dann ein Hundertstel. Yi lehnte alles ab.

Schließlich flehte Jia: „Lassen Sie mich Sie wenigstens zum Essen einladen!“

Am nächsten Morgen trafen sie sich in einem Gasthaus. Doch bevor Jia erneut danken konnte, kam Yi ihm zuvor. „Ich bin Ihnen etwas schuldig“, sagte er.

Jia blinzelte verwirrt.

Yi erklärte: „Ich hatte gestern eine Fahrkarte für die Fähre. Doch weil ich auf Sie wartete, verpasste ich das Schiff. Später hörte ich: Das Boot kenterte. 23 Menschen ertranken. Ich wäre einer von ihnen gewesen. Sie haben mein Leben gerettet!“

Die beiden Männer schauten sich an – überwältigt vom Zufall oder vielleicht vom Schicksal.

Als Jia die Geschichte seinem Chef erzählte, war dieser so beeindruckt, dass er Yi persönlich treffen wollte.

Die beiden Männer verstanden sich auf Anhieb. Der Chef bot Yi eine gut bezahlte Stelle an, später wurde er sogar sein Schwiegersohn. Schließlich übertrug er ihm die gesamte Geschäftsleitung.

Die Geschichte von Yis Ehrlichkeit verbreitete sich in ganz Shanghai. Händler suchten seine Zusammenarbeit, sein Geschäft florierte, und aus dem einst mittellosen Mann wurde ein wohlhabender Kaufmann.



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