
Die nachfolgende Erzählung gehört zu den berühmtesten und eindringlichsten Lehrgeschichten des Buddhismus und wird seit Jahrhunderten in verschiedenen Versionen überliefert. Sie schildert den dramatischen Weg eines jungen Mädchens aus der Kaste der Mātaṅga, das, von einer alles verzehrenden Leidenschaft für den Mönch Ānanda ergriffen, an die Grenzen ihres eigenen Verlangens stößt:
In den staubigen Gassen der Stadt lebte ein junges Mädchen, geboren in der niedrigsten Kaste, den Mātaṅga. Ihr Leben war geprägt von Armut, Ausgrenzung und harter Arbeit, doch in ihrem Inneren brannte ein ungestilltes Feuer. Eines Tages begegnete sie Ānanda, dem Cousin und engsten Vertrauten des Buddha. Er war weithin für sein edles und ansprechendes Äußeres bekannt, das die Zeichen eines großen Mannes trug. Doch weit mehr als das war er der auserwählte Schatzmeister der Lehre, gesegnet mit einem vollkommenen Gedächtnis, dem eines Tages die Aufgabe zuteilwerden würde, alle Lehrreden des Erwachten für die Nachwelt zu bewahren. Diese einzigartige Verbindung aus körperlicher Anmut, Güte und sanfter Ausstrahlung zog das Mädchen augenblicklich in Bann.
Verzweifelt und aus Mutterliebe wandte ihre Mutter alte Magie an. Sie belegte Ānanda mit einem Liebeszauber, der seine Willenskraft lähmte. Unter dem Bann folgte er dem Mädchen, als wäre sein Herz nicht mehr sein eigenes, und geriet dadurch in höchste Gefahr für sein spirituelles Leben. Als Mönch war Ānanda durch das Gelübde der vollkommenen Keuschheit (Brahmacarya) gebunden – eine der vier grundlegenden Regeln. Ein Bruch dieses Gelübdes gilt als so schwerwiegend, dass er die spirituelle Grundlage des Mönchtums selbst zerstört und damit automatisch und unumkehrbar das Ende seiner Ordination bedeutet hätte. Doch dieses scheinbare „Glück“ war eine Illusion – eine Verstrickung, die nicht nur das Mädchen, sondern auch Ānanda ins tiefste Leid hätte stürzen und seinen heiligen Weg für immer beenden können.
Die Not seines Jüngers erreichte den Buddha auf Wegen, die jenseits gewöhnlicher Sinne liegen. Er erkannte die Situation nicht mit den Augen, sondern mit der allumfassenden Weisheit seines Herzens. Mit ruhiger Gelassenheit rezitierte er das mächtige Śūraṅgama-Mantra, dessen heilige Echos durch die Reiche der Existenz hallten. Aus dem Herzen des Dharma selbst erschien daraufhin der Bodhisattva Mañjuśrī, das Schwert der Weisheit tragend, um die Fesseln der Magie zu durchtrennen. Der Bann zerbrach wie ein Traum beim Erwachen, und Ānanda stand wieder frei vor dem Buddha und dem Mädchen.
Das Mädchen flehte den Buddha an, seine Liebe zu gewinnen. Ihre Augen glänzten vor Verzweiflung und Sehnsucht:
„Erlauben Sie mir, ihn zu heiraten“, bat sie.
Der Buddha aber sah ihr Herz, erkannte die Illusion und sprach mit sanfter, eindringlicher Stimme:
„Sag mir, was liebst du an Ānanda?“
„Alles“, antwortete sie ohne zu zögern, „seine Augen, seine Stimme, die Art, wie er geht. Ich liebe alles an ihm.“
Der Buddha neigte leicht sein Haupt. „Der Körper von Ānanda ist, wie jeder Körper, gefüllt mit Unreinheiten – Tränen, Schleim, Speichel, Schweiß, Gebrechen und schließlich Tod. Liebst du diese auch?“
Verwirrung und Schmerz durchfluteten das Mädchen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr begehrtes Bild so vergänglich und unrein war. Doch der Buddha fuhr fort, seine Stimme ruhig und klar wie ein Bergbach:
„Sieh genau hin. Ich zeige dir Ānanda, wie er altern wird, gebrechlich, von Krankheit gezeichnet, und schließlich als Leichnam vergehen wird. Alles, was du liebst, ist vergänglich. Wirst du immer noch daran hängen?“
Das Mädchen sah, wie der Buddha mit seiner Weisheit die Illusion ihrer Begierde aufdeckte. Die Bilder brannten sich in ihr Herz ein. Tränen liefen über ihr Gesicht, doch mit ihnen kam Klarheit. Ihr Verlangen zerbrach, und sie begann zu verstehen: Liebe, die nur an Form und Erscheinung haftet, führt ins Leid.
Tief verändert bat sie, in den Orden aufgenommen zu werden. Trotz der Schranken des Kastensystems erlaubte der Buddha ihr den Eintritt und lehrte, dass wahre Edelmütigkeit nicht von Geburt, sondern von Weisheit und tugendhaftem Verhalten abhängt.
Im Kloster widmete sie sich der Praxis: Meditation, Achtsamkeit über Körper und Geist, das Beobachten aller Gedanken und Gefühle. Sie erkannte die Vergänglichkeit, die Leere der Anhaftungen und die Natur des Geistes. Mit jeder Stunde wuchs ihre Klarheit, ihr Herz wurde weit und still.
Schließlich erlangte sie die vollkommene Befreiung. Alle Illusionen, jede Anhaftung, jede Verblendung waren aufgelöst. Das Mädchen aus der niedrigsten Kaste, einst von Leidenschaft verzehrt, war nun eine Arhatin – eine „Ehrwürdige“, die das Nirwana verwirklicht hatte und für immer vom Kreislauf der Wiedergeburt befreit war. Ihre Errungenschaft war ein leuchtendes Zeugnis der revolutionären Lehre des Buddha: Sie bewies, dass der höchste Gipfel der Weisheit und Reinheit nicht von Geburt oder Geschlecht abhängt. Als erwachte Frau wurde sie zu einem machtvollen Vorbild und einer Inspiration, die zeigte, dass die vollkommene Befreiung für jeden – und jede – erreichbar ist.
Quellenverzeichnis
Śūraṅgama-Sūtra (大佛頂首楞嚴經, Dà Fódǐng Shǒuléngyán Jīng)
Schwerpunkt: Diese Mahāyāna-Schrift ist die Hauptquelle für die dramatische Erzählung des Liebeszaubers, das Eingreifen des Buddha durch das Śūraṅgama-Mantra und den tiefgründigen Dialog über die Natur des Geistes und die Illusion der Wahrnehmung.
Divyāvadāna, Kapitel „Śārdūlakarṇāvadāna“
Schwerpunkt: Diese Sanskrit-Erzählung konzentriert sich auf die Überwindung des Kastensystems. Sie betont den Dialog, in dem der Buddha die brahmanischen Vorurteile widerlegt und lehrt, dass wahre Edelmütigkeit allein von tugendhaftem Handeln (Karma) und nicht von der Geburt abhängt.
Vinaya-Piṭaka (z.B. Cullavagga) & Mūlasarvāstivāda-Vinaya
Schwerpunkt: Diese Texte der Ordensregeln liefern den Kontext für die Aufnahme in den Orden (Ordination). Sie beschreiben die Prozeduren und die fundamentalen Gelübde, wie die Keuschheit, und untermauern so die Ernsthaftigkeit von Ānandas Situation und die revolutionäre Natur der Aufnahme einer Unberührbaren.
Therīgāthā (Verse der älteren Nonnen)
Schwerpunkt: Obwohl keine Nonne explizit mit der Hauptfigur identifiziert wird, dient diese Sammlung als archetypisches Zeugnis. Sie enthält die Verse von Frauen aus allen sozialen Schichten, die die Arhatschaft erlangten, und illustriert damit das ultimative Ziel und Ergebnis des Weges, den das Mädchen in der Geschichte beschreitet.
Kategorien:Anekdoten
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