Beitragsreihe: Wie kam der Buddhismus nach China?
Kap. 1: Die Anfänge der chinesischen Philosophien und Religionen
Kap. 2: Die Durchsetzung des Buddhismus in der Wei- und Jin-Zeit (220-420 n. Chr.)
Kap. 3: Die Ausgestaltung des chinesischen Buddhismus in den Nord-Süd-Dynastien (420-589 n. chr.)
Teil 9: Das Samdhi-Nirmocana-Sutra über den „Alle-Samen-Herz-Geist“

Im Samdhi-Nirmocana-Sutra, dem „Sutra zur Aufschlüsselung des tiefen Geheimnisses“, spricht Buddha im 6. Kapitel als Antwort auf die Frage von Bodhisattva Visalamati 廣慧 guang hui nach dem Sinn der tief verborgenen Lehre des Bewusstseins wie folgt:
Wie entsteht und wächst der Körper der fühlenden Wesen […] im [Kreislauf des] Lebens und Todes in den sechs Daseinsbereichen? Zuerst entsteht der „Alle [Karma-] Samen Herz-Geist“, welcher auf unterschiedlicher Art und Weise [je nach Geburtsart und Daseinsbereich] sich vereint, heranwächst und reift durch zwei Arten von Anhaftungen. Was sind diese beiden Arten? Die erste ist die Anhaftung an die formhaften Sinnesgrundlagen. Die zweite ist die Anhaftung auf Basis der nicht-differenzierten Gestalten, durch die Ansammlung von Worten und trügerischen Konzepten sowie die Prägung durch dieselben.[1]
Es geht also um die Ursache des karmischen Wiedergeburtskreislaufes in den sechs Daseinsbereichen (Himmelswesen, Asura, Mensch, Tier, Hungergeister, Höllenwesen). Die (Wieder-)Geburt basiert auf den karmischen Samen, deren Ansammlung hier als „Alle [Karma-] Samen Herz-Geist 一切种子心 yi qie zhong zi xin“ bezeichnet wird. Vergleicht man diese Übersetzung mit jenem von Xuanzang, merkt man einige Differenzen. Wo hier „Zuerst entsteht der „Alle [Karma-] Samen Herz-Geist“, welcher […] sich vereint, heranwächst und reift…“ steht, ist bei Xuanzangs Version: „Zuerst entstehen alle Samen, wenn dann das Herz-Geist-Bewusstsein reif wird, vereint es sich im weiteren Verlauf, wächst heran und wird groß…“. Xuanzang lebte über 100 Jahre später als Bodhiruci, also zu einer Zeit, wo die Yogacara-Schule in Indien bereits voll entwickelt war und er diese Lehre direkt von den Vertretern der Schule in Indien erlernte. Man erkennt an seiner Übersetzung, dass er mehr Bezug auf die Nur-Bewusstsein-Schule nimmt. Dem Wort „Herz-Geist“ von Bodhiruci fügte er das Wort „Bewusstsein“ hinzu. Der Herz-Geist ist daher als ein Bewusstsein, das auf Basis der karmischen Samen entstanden ist, zu verstehen. Die späteren Schriften der Nur-Bewusstsein-Schule nennt dieses nur noch als Bewusstsein, nämlich: das Alle-[Karma]-Samen-Bewusstsein 一切种子识 yi qie zhong zi shi (Sanskrit: sarva-bijaka-vijnana). Und er ergänzt zwischen „Samen“ und „…sich vereint…“ noch den Schritt „…wenn das Herz-Geist-Bewusstsein reif wird“. Was mit diesem Schritt beschrieben wird, ist die abhängige bedingte Entstehung. Dies ist ein Grundkonzept der buddhistischen Lehre, auf welches die Nur-Bewusstsein-Schule näher eingeht. Es entwickelte und verfeinerte sich über mehrere Jahrhunderte. Das Samdhi-Nirmocana-Sutra als eine der ersten Schriften bietet noch keine detaillierte systematische Darstellung. Es wird in diesem Sutra nicht erläutert, was mit „…sich vereint…“ gemeint ist.
In dem vom Dharmaraksa 竺法护 zhu fa hu (229-306 n. Chr.) übersetzten „Sutra zur Buddhas Rede über das Embryo 佛说胞胎经 fo shuo bao tai jing“ wird gesagt, dass damit die Vereinigung des karma-bedingten Bewusstseins mit „der Essenz des Vaters und der Mutter“ gemeint sei [2]. Im Zusammenhang mit der zwölfgliedrigen Bedingungskette des abhängigen Entstehens stellt dieses befleckte Bewusstsein die Ursache vom sog. „Name und Form (namarupa)“, grob gesagt: „der mentale und formhafte Bereich“ [3] des Embryos, dar. Das Glied in der Bedingungskette vor dem Bewusstsein ist die Karmaformation, welche wiederum vom Unwissen verursacht wird. Das bedeutet, dass dieses Bewusstsein ein beflecktes Dasein darstellt, das von der Ich-Anhaftung und den damit verbundenen Leidenschaften geprägt ist. Diese karmischen Samen sind Impulse, welche auf Basis von zweierlei Anhaftungen aus früheren Daseinen entstehen. Die erste ist die Anhaftung an die formhaften Sinnesgrundlagen fürs Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Berühren, mit welchen das Wiedergeburtsbewusstsein sich identifiziert (Anhaftung an den formhaften Körper als Ich) und von ihnen abhängig wird.
Die zweite Anhaftung, welche von Bodhiruci als
„die Anhaftung auf Basis der nicht-differenzierten Gestalten, durch die Ansammlung von Worten und trügerischen Konzepten sowie die Prägung durch dieselben.“ [4]
übersetzt wurde, findet in Xuanzangs Übersetzung eine abweichende Darstellung, und zwar
„die Anhaftung verursacht durch die Gewohnheitszüge aufgrund der Prägung durch Gestalten, Namen, Differenzierungen, Worte und trügerische Konzepte.“ [5]
Grundsätzlich geht es hier darum, dass das Bewusstsein von mannigfachen Impulsen derart geprägt wird, dass eine Anhaftung aus Gewohnheit entsteht. Bei Bodhiruci steht dazu noch das Wort „Ansammlung 集 ji“. Die „Prägung 熏 xun“ steht für die karmischen Samen bzw. die eingeprägten Impulse, und die „Ansammlung“ die Anhäufung derselben. Diese Samen sind daher nicht als eigenständige unveränderbare Existenzen zu sehen. Xuanzang verwendet dabei noch das Wort „Gewohnheitszüge 习气 xi qi“, was darauf hindeutet, dass die Prägung so tiefgründig ist, dass diese, selbst wenn der Prozess der Prägung beendet ist, noch in einer gewohnter Art und Weise weiterwirken würde. Es sind bei beiden Übersetzungen prägende oder befleckende Impulse aufgezählt: Bei beiden gemeinsam sind „Worte und trügerische Konzepte“. Damit sind alle Konzepte und Vorstellungen samt den Worten, sprich: den Erläuterungen dazu, welche vom Unwissen bzw. der verblendeten Sicht verursacht werden und von der ultimativen Wahrheit abweichen, gemeint.
Abweichung findet man bei den „nicht-differenzierten Gestalten“ von Bodhiruci und „Gestalten, Namen, Differenzierungen“ bei Xuanzang. Nicht differenzierend beschreibt im Allgemeinen den erwachten Geisteszustand, der frei vom Unwissen die wahre Natur aller Phänomene mit Weisheit erkennt. Differenzierend ist das befleckte Bewusstsein, welches aufgrund des Unwissens und der Ich-Haftung trügerische „Gestalten und Namen“ den wahrgenommenen Phänomenen zuordnet, was wiederum zu „Worten und trügerischen Konzepten“ führen. Die Übersetzungen scheinen gegensätzlich zu sein. Da der Sanskrit-Text nicht überliefert wurde, ist ein Vergleich mit dem Originaltext nicht möglich. Man kann daher nur vermuten, dass die beiden Übersetzer aus unterschiedlichem Blickwinkel übersetzt haben. Mit den „nicht-differenzierten Gestalten“ geht Bodhiruci von der reinen undifferenzierten Natur aus, welche die Grundlage aller Phänomene und Gestalten bildet. Es fehlt nur die Erklärung, wie es zu den Worten und falschen Konzepten kommen kann. Die Ursache ist eigentlich die differenzierte Betrachtung, welche aus der verblendeten Sicht resultiert. Bodhiruci hat diesen Sinn in seiner Übersetzung nicht dargestellt. Xuanzang hingegen geht direkt vom befleckten Bewusstsein aus, das durch die differenzierte Betrachtung die Gestalten der Phänomene benennt (Gestalten und Namen), was wiederum zu Worten und trügerischen Konzepten führt. Es ist anzunehmen, dass Bodhiruci den Schwerpunkt auf die undifferenzierte Natur als Grundlage aller Phänomene legt, während Xuanzang sich auf das Bewusstsein als Ursache des karmischen Kreislaufs konzentriert. Daraus kann man schließen, dass Bodhiruci Bezug auf die Lehre der Buddhaessenz oder Buddhanatur nimmt, Xuanzang hingegen beschäftigt sich nur mit dem Bewusstsein. Im Laufe der Entwicklung der Nur-Bewusstsein-Schule haben sich unterschiedliche Ansichten über die Bedeutung der Buddhaessenz ergeben. Und die Nur-Bewusstsein-Schule zur Xuanzangs Zeit setzte sich kaum mit dem Begriff Buddhaessenz auseinander und geht schwerpunktmäßig auf die Wirkung des Bewusstseins ein. Die Abweichung im obigen Zitat könnte daher auf diese Entwicklung zurückzuführen sein. (Wir werden in weiteren Beiträgen auf diese Entwicklung der Nur-Bewusstsein-Schule näher eingehen.)
Gemäß dem obigen Zitat gibt es also ein „Alle [Karma] Samen Herz-Geist-Bewusstsein“ und ein Bewusstsein, das einerseits an die Sinnesgrundlagen und damit verbunden an die Sinnesobjekte und andererseits aufgrund der differenzierenden Betrachtung an die Namen, Gestalten, Worte und Konzepte anhaftet. Durch diese Anhaftungen wird der Prozess der (Wieder-)Geburt angetrieben. Dieser Darstellung zufolge lässt sich der Schluss ziehen: Können die karmischen Samen und die Anhaftungen beendet werden, hört der Wiedergeburtskreislauf oder der Kreislauf des Leidens auf. Das Anliegen der Nur-Bewusstsein-Schule ist daher, diesen Prozess des Beendens des Leidens detailliert zu erläutern. Das obige Zitat stellt als Ausgangspunkt dieses Prozesses drei Funktionen des Bewusstseins dar: nämlich Ansammlung/Speicherung, Anhaftung und Transformation. Das Zitat geht darauffolgend auf diese Eigenschaften ein und erwähnt Begriffe, welche die Kernkonzepte der Nur-Bewusstsein-Lehre darstellen: Adanavijnana (Anhaftungsbewusstsein), Alayavijnana (Ansammlungs- oder Speicherbewusstsein), Citta (Herz-Geist)…
[1] 廣慧!於諸六道生死之中,何等何等眾生 […] 受身、生身及增長身?初有一切種子心生,和合不同,差別增長,廣所成就,依二種取。何等二種?一者、謂依色心根取,二者、依於不分別相言語戲論熏集而取。——《深密解脫經卷第二 聖者广慧菩薩問品第六》
[2] 神入彼胎則便成藏。其成胎者。父母不淨精亦不離。父母不淨又假依倚。因緣和合而受胞胎。[…] 不从父母构精如成胞里,不独父母遗体,亦不因空因缘也。有因缘合成四大等合因缘等现,得佛胞里而为胚胎。——《佛說胞胎經》西晉竺法護譯
[3] […] 肧胎如是。不從父母不離父母。又緣父母不淨之精。得成胞裏因此成色。痛痒思想生死之識因得號字。緣是得名由本成色。以此之故號之名色。——《佛說胞胎經》西晉竺法護譯
[4] 廣慧!於諸六道生死之中,何等何等眾生 […] 受身、生身及增長身?初有一切種子心生,和合不同,差別增長,廣所成就,依二種取。何等二種?一者、謂依色心根取,二者、依於不分別相言語戲論熏集而取。——《深密解脫經卷第二 聖者广慧菩薩問品第六》
[5] 廣慧當知。於六趣生死。彼彼有情墮彼彼有情眾中。[…] 於中最初一切種子。心識成熟展轉和合增長廣大。依二執受。一者有色諸根及所依執受。二者相名分別言說戲論習氣執受。——《解深密經卷二 心意識相品第三》玄奘譯
(Mit Korrekturen von Ursula Presslauer, Birgit Seissl, Jörg Hollenstein und Alexander Maurer)
Kategorien:Buddhismus China, Samdhi-Nirmocana-Sutra
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