„Mitte aller Mitten, Kern der Kerne,
Mandel, die sich einschließt und versüßt, –
Dieses Alles bis an alle Sterne
Ist dein Fruchtfleisch: Sei gegrüßt.
Sieh, du fühlst, wie nichts mehr an dir hängt;
Im unendlichen ist deine Schale,
Und dort steht der starke Saft und drängt.
Und von außen hilft ihm ein Gestrahle,
Denn ganz oben werden deine Sonnen
Voll und glühend umgedreht.
Doch in dir ist schon begonnen,
Was die Sonnen übersteht.“
Dies ist „Buddha in der Glorie“, eines von insgesamt drei Gedichten von Rainer Maria Rilke (1875-1926). Erstmals veröffentlicht wurde es 1908 im Band „Der Neuen Gedichte anderer Teil“.
Kommentare zu Lyrik sind eine Textgattung, die eher schlecht funktioniert und sehr ermüdend ist. Daher beschränke ich mich bewusst auf ein paar knappe Hinweise, die zum Verständnis nützlich sein können. Die Interpretation des Gedichts bleibt dem Leser überlassen.
Zu Rilkes Lebzeiten hat die Wahrnehmung des Buddhismus in Europa gerade eben begonnen. Die allerersten Übersetzungen von Texten ins Deutsche erschienen erst in diesen Jahren. Es überwog noch der Aspekt des exotischen, des ungewöhnlichen, des neuen. Wir dürfen uns also gewiss nicht vorstellen, dass Rilke mehr als nur eine ganz ungefähre Vorstellung von Buddha und seiner Lehre hatte, als er diese Zeilen schrieb.
Tatsächlich handelt dieses Gedicht vordergründig von einer importierten Buddhastatue, nicht so sehr vom historischen Buddha selbst. Es gehört also zu vielen kurzen Rilke-Gedichten, die auf visuelle Eindrücke des Autors reagieren. Rilke war wohl ein Poet, der sich generell gerne von gesehenen, von Wahrnehmungen mit den Augen inspirieren ließ. So auch hier. Aber mit seinem wachen Geist hat er erstaunliche Assoziationen mit dieser Buddhastatue verbunden. So scheint sie eine „Glorie“, also eine Flammenaura oder Heiligenschein, gehabt zu haben, die Rilke an einen geöffnete Frucht erinnerte. Aber gleich kommt sein poetischer Sinn von Früchten auf Sonnen. Das Sonnenhafte, Lichthafte ist eine übliches Attribut des Buddha in der indischen Kunst und Poesie gewesen.
Doch auch Sonnen haben eine Lebensspanne, die einmal zu Ende geht. Wie lange existieren Sonnen laut der Astronomie? Das ist ja nach Sonnentyp extrem unterschiedlich, aber selbst die kurzlebigsten Sonnen sind eigentlich jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Und was sind diese Zeiträume, verglichen mit dem Geist eines Buddha? Was ist es eigentlich, das laut dem Gedicht in Buddha „schon begonnen“ hat, was die Lebensdauer der Sonnen übersteigt? Soll man es mit der Buddhanatur in Verbindung bringen? Oder dem Dharmakaya? Oder dem Nirmanakaya?
Das ist der Vorzug der Poesie, dass sie alles mit allem assoziieren kann, dass sie Fragen aufwerfen darf, ohne sie durch Beantworten zu profanisieren.
Kategorien:Gedichte

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