„Es kann nicht befleckt werden“ – Das Koan zum Nanyue Huairang (677-744)

——Beitragsreihe: Die Koans zur Geschichte des Zen-Buddhismus

In der Tang-Dynastie (618—907 n. Chr.) wird von zahlreichen Schülern berichtet, die durch das „direkte Aufzeigen des natürlichen Wesens“ von ihren Lehrern zum Erwachen geführt wurden. Huineng selbst soll etwa 40 Schüler auf diesem Weg begleitet haben, während sein Enkelschüler Mazu Daoyi mit etwa 100 erwachten Schülern einen Höchststand erreichte. Jede der fünf Linien, die von Huinengs Schülern gegründet wurden, konnte zahlreiche Erwachte verzeichnen, die durch diese direkte Methode erleuchtet wurden. Allerdings nahm diese Erfolgsquote im Laufe der Zeit ab. Seit der Song-Dynastie (960-1279 n. Chr.) sind immer weniger solcher Fälle dokumentiert. Diese 5 Jahrhunderte gelten daher als die Blütezeit des Zen- oder Chan-Buddhismus, insbesondere in Bezug auf die Häufigkeit des plötzlichen Erwachens. Die fünf Linien, die aus Huinengs Schule hervorgingen, prägten die kulturelle Landschaft in China und Ostasien nachhaltig. Diese fünf Schulen sind:

  • die Guiyang-Schule 溈仰宗
  • die Lingji-Schule, japanisch: Rinzai-shu, 臨濟宗
  • die Caodong-Schule, japanisch: Soto-shu 曹洞宗
  • die Fayan-Schule 法眼宗
  • die Yunmen-Schule 雲門宗

Wir setzen unsere Untersuchung der Hauptfiguren dieser Linien mit den Koans fort. Obwohl Huineng viele Schüler hatte, können wir die Linien letztlich auf nur zwei seiner Schüler zurückführen: Nanyue Huairang 南嶽懷讓 (677-744 n. Chr.) und Qingyuan Xingsi 青原行思 (671-740 n. Chr.). Die Guiyang- und Lingji-Linien (Rinzai) entstanden aus Huairang und seinen Nachfolgern, während Xingsi und seine Schüler die Caodong- (Soto), Fayan- und Yunmen-Linien entwickelten.

Beginnen wir mit Nanyue Huairang. Huairang, dessen Mönchsname war, wurde wegen der Lage seiner Schule am Berg „Nanyue“ auch mit dem Ehrentitel Nanyue bezeichnet. Eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit aller dieser zen- oder chan-buddhistischen Meister war ihre frühzeitige Neigung zur buddhistischen Lehre, die sie dazu brachte, schon in jungen Jahren aus persönlichem Interesse in den Mönchsstand zu treten. Huairang wurde 676 als Sohn der Familie Du in der Stadt Jinzhou (in der heutigen Provinz Shanxi im Westen Chinas) geboren. Bereits im Alter von zehn Jahren zeigte er eine Vorliebe für das Studium buddhistischer Schriften. Ein Mönch namens Xuanjing sagte seinen Eltern: „Wenn das Kind Mönch werden kann, wird es den hohen Weg verwirklichen und zahlreichen fühlenden Wesen zum Ufer verhelfen.“ Mit fünfzehn Jahren wurde er im Kloster Yuquan in der Stadt Jingzhou in der Provinz Hubei zum Mönch ordiniert. Dort studierte er zwei Jahre lang die Vinaya Pitaka, die Sammlung der Mönchsregeln, und kam zu dem Schluss: „Wenn ich schon Mönch bin, dann sollte ich die bedingungslose, unübertreffliche Lehre praktizieren.“ Zusammen mit einem Mitpraktizierenden machte er sich auf den Weg nach Osten, um den Meister Angong am Berg Songshan aufzusuchen, der ihm wiederum empfahl, den sechsten Ahnlehrer Huineng in Caoxi im Süden des Landes aufzusuchen. Über ihre erste Begegnung mit Huineng wurde folgendes Koan überliefert:

Der Ahnlehrer fragte: „Woher kommst du?“

Huairang antwortete: „Songshan.“

Der Ahnlehrer daraufhin: „Was ist es und woher kommt es?“

Huairang erwiderte: „Es ist mit keinem Ding vergleichbar.“

Der Ahnlehrer bohrte weiter: „Kann es noch kultiviert und bestätigt werden?“

Huairang reagierte souverän: „Könnte es kultiviert und bestätigt werden, dann ist es nicht mehr nichts. Es kann nicht befleckt werden.“

Der Ahnlehrer nickte zustimmend: „Genau das, was nicht befleckt werden kann, wird von den Buddhas gehütet. Das ist bei dir so und bei mir auch.“ [1]

Koans haben das Merkmal, keinen logischen Zusammenhang in den Dialogen zu haben. Wie hier z. B. zur Ortsangabe „Songshan“ der Lehrer „Was ist das?“ fragt. Genau dieser mangelnde Sinnzusammenhang soll anscheinend der Sinn dieser Koans sein. Lehrer und Schüler scheinen dabei aber genau zu wissen, worüber sie sprechen. Die Kommunikation sollte sozusagen von Geist zu Geist stattfinden.

Eine alternative Quelle besagt, dass Huairang diese Antworten nicht sofort bei der ersten Begegnung gab. Er schwieg, als der Ahnlehrer fragte: „„Was ist es und woher kommt es?“[2] Erst nach acht Jahren Praxis bei Huineng kam ihm eines Tages die Antwort plötzlich in den Sinn. Huineng bestätigte daraufhin sein Erwachen. Huineng machte in Anschluss des obigen Dialoges noch eine mysteriöse Anweisung und Prophezeiung:

„Einst prophezeite der Ahnlehrer Prajnatara im Westen, dass aus deinen Fußstapfen ein Pferd hervortreten wird, welches alle Menschen unter dem Himmel zertrampeln wird. Bewahre es in deinem Herzen und verkünde es nicht voreilig.“ [3]

Prajnatara war der 27. Ahnlehrer auf indischem Boden und Lehrer von Bodhidharma. Ob er vor etwa 300 Jahren in Indien bereits von Huairang wusste, ist ungewiss. Doch diese Prophezeiung hebt die Bedeutung einer nachkommenden Persönlichkeit hervor. Das „Pferd“ in dieser Prophezeiung wies auf Huairangs Schüler Mazu Daoyi hin. Sein weltlicher Name „Ma“ ist das Schriftzeichen für „Pferd“. Daher wurde er Mazu genannt, was „Ahnlehrer Ma“ bedeutet. „Daoyi“ war sein Mönchsname. Mit dem Titel „Ahnlehrer“ wurde seine Verehrung ausgedrückt, denn nach Huineng wurde kein anderer Meister als „Ahnlehrer“ bezeichnet. Obwohl es offiziell keinen 7. Ahnlehrer gab, wurde Mazu Daoyi von vielen inoffiziell als der 7. Ahnlehrer angesehen, aufgrund seiner Bedeutung in der Chan-Linie. Deshalb wurde er als das „Pferd, das alle Menschen unter dem Himmel zertrampeln wird“ bezeichnet. Dies sollte seine kraftvolle Methode, Schüler zum Erwachen zu bringen, und seine weitreichende Wirkung auf die zen- oder chan-buddhistischen Schulen verdeutlichen. Wie kam es nun zur Begegnung zwischen Nanyue Huairang und Mazu Daoyi? Darum geht es im nächsten Koan.

<<< „Weder Wind noch Fahne bewegen sich“ – Die Koans zum 6. Ahnlehrer Huineng (Teil 4)

„Schlägst du den Karren oder den Ochsen“ – Das Koan zum Mazu Daoyi >>>


[1] 南嶽懷讓禪師禮祖。祖曰何處來。曰嵩山。祖曰。什麼物恁麼來。曰說似一物即不中。祖曰。還可修證否。曰修證即不無。污染即不得。祖曰。只此不污染。諸佛之所護念。汝既如是。吾亦如是。西天般若多羅讖汝。足下出一馬駒。踏殺天下人。應(一作病)在汝心。不須速說。——《指月錄卷之四 東土祖師 六祖慧能大師》

[2] (傳燈。祖問。什麼物恁麼來。讓無語。遂經八載。忽然有省。乃白祖。某甲有箇會處。祖曰。作麼生。讓云云。與此同。)——《指月錄卷之四 東土祖師 六祖慧能大師》

[3] 西天般若多羅讖汝。足下出一馬駒。踏殺天下人。應在汝心。不須速說。——《指月錄卷之四 東土祖師 六祖慧能大師》




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