
Schon als kleiner Novize war Ikkyū Sojun alles andere als gewöhnlich. Heute kennt man ihn als einen der berühmtesten Zen-Meister Japans, geachtet für seine scharfe Weisheit und unkonventionelle Klugheit – doch in seiner Kindheit zeigte sich diese Klugheit vor allem in frecher Verspieltheit.
Eines Tages brachte ein Besucher dem Abt des Klosters ein Glas Honig. Der Meister, kurz vor einer Reise, sah das goldene Glas auf dem Tisch und dachte:
„Wenn ich das hier stehen lasse, wird der kleine Ikkyū bestimmt neugierig werden.“
Also rief er den Jungen zu sich und sagte ernst:
„Ikkyū, dies hier ist Gift. Sehr gefährlich. Fasse es auf keinen Fall an.“
Ikkyū verbeugte sich, doch in seinen Augen funkelte bereits ein Lächeln. Er durchschaute die Täuschung sofort.
Kaum war der Meister fort, setzte sich Ikkyū vor das Glas, roch den Duft des Honigs – und aß ihn bis auf den letzten Tropfen. Danach überlegte er, wie er sich ein bisschen am Meister rächen könnte, um ihm die Lüge heimzuzahlen.
Sein Blick fiel auf die Lieblingsvase des Meisters. Mit einem verschmitzten Lächeln hob er sie an – und ließ sie fallen. Klirr.
Als der Abt zurückkam, fand er Ikkyū am Boden sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben, scheinbar in Tränen aufgelöst.
„Ikkyū! Was ist geschehen?“
„Meister! Ich habe ein schreckliches Unglück angerichtet! Ich… ich habe Ihre Vase zerbrochen!“
Der Meister seufzte tief.
„Ikkyū, wie konntest du nur so unachtsam sein?“
Da hob der Junge langsam den Kopf, die Augen blitzten vor schelmischer Genugtuung:
„Meister… ich war so voller Schuld, dass ich beschlossen habe, mein Leben zu beenden. Ich… habe das Gift getrunken!“
Der Abt erstarrte, blickte auf das leere Glas Honig – und dann auf den quicklebendigen Jungen. Dann brach er in ein herzliches Lachen aus.
„Ah, kleiner Schlingel,“ sagte er, während er sich neben Ikkyū kniete, „du hast mich durchschaut. Ich habe dich angelogen, um dich zu warnen – und du hast mich frech auf die Probe gestellt. Dafür schulde ich dir eine Entschuldigung: Es war falsch von mir, dich zu täuschen.“
„Doch“, fuhr der Meister fort, „du musst verstehen: Nur weil ich einmal gelogen habe, heißt das nicht, dass man selbst Unruhe stiften oder Regeln brechen soll. Lerne, dich nicht von schlechten Vorbildern verführen zu lassen, und lass keine Lust zu Lügen und kleinen Sabotagen dein Handeln bestimmen.“
Der junge Novize zeigte sich bewegt von diesen Worten und verneigte sich. Der Meister legte ihm die Hand auf die Schulter, lächelte milde und sprach:
„Na komm, wir vergessen die Vase – aber den Honig teile ich beim nächsten Mal lieber mit dir.“
Kategorien:Anekdoten
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