Das Lankavatara Sutra über das Entstehen, Verweilen und Vergehen der Bewusstseine

Beitragsreihe: Wie kam der Buddhismus nach China?

Kap. 1: Die Anfänge der chinesischen Philosophien und Religionen

Kap. 2: Die Durchsetzung des Buddhismus in der Wei- und Jin-Zeit (220-420 n. Chr.)

Kap. 3: Die Ausgestaltung des chinesischen Buddhismus in den Nord-Süd-Dynastien (420-589 n. chr.)

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Teil 14: Das Lankavatara Sutra über das Entstehen, Verweilen und Vergehen der Bewusstseine

Man erkennt schon bei den ersten Fragen den Bezug zur Lehre der Nur-Bewusstsein-Schule, da diese sich auf den Zustand der Bewusstseine beziehen:

Zu jenem Moment fragte Mahamati den Buddha: „Weltverehrter! Wie viele Arten des Entstehens, des Verweilens und des Vergehens aller Bewusstseine gibt es?„[1]

Buddha sagte zu Mahamati:

„Die Bewusstseine haben zwei Arten des Entstehens, Verweilens und des Vergehens, welche nicht durchs Denken begriffen werden können.

Die Bewusstseine haben zwei Arten des Entstehens: das Entstehen durch Kontinuität und durch  Erscheinungsformen (Merkmale, Manifestation).

Die Bewusstseine haben zwei Arten des Verweilens: das Verweilen durch Kontinuität und durch Erscheinungsformen (Merkmale, Manifestation).

Die Bewusstseine haben zwei Arten des Vergehens: das Vergehen durch Kontinuität und durch Erscheinungsformen (Merkmale, Manifestation).[2]

Was hier als Erscheinungsformen übersetzt wurde, kann auch „Merkmale“ oder „Manifestationen“ bedeuten. Das chinesische Wort Xiang 相 bedeutet Erscheinungsform oder Manifestation, das Sanskritwort laksanam „Merkmal“. In unseren Beiträgen werden alle drei Begriffe je nach Kontext entsprechend verwendet.

Obwohl „Kontinuität“ an erster Stelle der zwei Begriffe steht, wird zunächst zuerst die „die Erscheinungsformen“ erläutert:

Die Bewusstseine haben drei Arten von Erscheinungsformen/Merkmalen: die der Transformation, Wirkung und Wirklichkeit. Mahamati! Kurz gesagt gibt es drei Arten der Bewusstseine, ausführlich gesagt haben sie acht Ausprägungen. Welche drei? Das wirkliche, das manifestierende und das die Objekte differenzierende Bewusstsein.[3]

Vorab zu erwähnen ist, dass es oft bei dem Sutra zwischen den Begriffen „Bewusstsein“ und „Erscheinungsform“ gewechselt wird, obwohl das gleiche damit bezeichnet wird. Was hier z. B. als Transformation-Erscheinungsform 轉相 zhuan xiang (pravrtti-laksanam) steht, wird im weiteren Verlauf des Sutras als Transformation-Bewusstsein 轉識 zhuan shi (pravṛtti-vijñana) bezeichnet. Auch unter den verschiedenen Versionen von Übersetzungen des Sutras findet man unterschiedliche Verwendungen dieser beiden Begriffe. Es gilt daher immer zu beachten, dass mit dem Wort Bewusstsein nicht ein denkendes Subjekt gemeint wird, sondern dass es einerseits als die Grundlage andererseits als die Auswirkung eines mentalen Prozesses zu verstehen ist. Weiters ist diese Kategorisierung und Anzahl der Erscheinungsformen bzw. Bewusstseine nicht als fixe Doktrin zu sehen, denn es tauchen im Laufe des Textes noch andere Begriffe wie z. B. 藏識 zang shi (Speicherbewusstsein) auf, welche hier nicht aufscheinen. Um den Text zu verstehen, muss man daher zuerst begreifen, welche Vorgänge oder Bereiche des mentalen Prozesses mit diesen Begriffen dargestellt werden.

Was das Lesen dieses Sutras schwierig macht ist, dass beim ersten Lesen keine klare Struktur der Erläuterung zu erkennen ist. Zur Erklärung des obigen Zitates fängt man z. B. nicht damit an, die ersten Begriffe zu erklären, sondern mit den letzten. Auch dort lässt man den ersten Begriff „das wirkliche Bewusstsein“ aus, und geht zuerst auf das manifestierende und das die Objekte differenzierende Bewusstsein ein:

Mahamati! Wie ein Spiegel die Formen wiedergibt, genauso ist es mit dem, was durch das manifestierende Bewusstsein zur Erscheinung kommt. Mahamati! Das manifestierende und das die Objekte differenzierende Bewusstsein, diese zwei vergehen, ohne zu vergehen, sie bedingen einander laufend gegenseitig.[4]

Das Gleichnis mit dem Spiegel ist sehr geläufig im Buddhismus. Das manifestierende Bewusstsein steht also für jene Funktion des Bewusstseins, die es ermöglicht, die Erscheinung der Objekte zu ermöglichen. Diese Erscheinungen sind alle vom Geist verursacht, wie wir sie bereits mit dem Konzept der 18 Sinnes- und Bewusstseinsbereiche (Dhatus), die sich aus dem Zusammentreffen von den 6 Sinnesgrundlagen, 6 Sinnesobjekten und 6 Sinnesbewusstseinen sich gestalten. Alle Phänomene, die sich so manifestieren, sind daher subjektiv projizierten und wahrgenommenen Gestalten. Deshalb sind sie wie Spiegelbilder zu betrachten, d. h. trügerisch und nicht real. Dieses Erscheinen ist ein bedingter Prozess mit Ursache und Wirkung. Das manifestierende Bewusstsein ist daher nicht ein eigenständig wirkendes Dasein, sondern das Produkt seiner Ursache. Es heißt also, dass das manifestierende und das die Objekte differenzierende Bewusstsein einander bedingen und daher vergehen, ohne zu vergehen. Was bedeutet das? Es wird weiter erklärt:

Mahamati! Unvorstellbare Prägungen und Transformationen sind die Ursache des manifestierenden Bewusstseins. Mahamati! Allerlei Staub ergreifend und anfanglos von trügerischen Gedanken geprägt, dies ist die Ursache des die Objekte differenzierenden Bewusstseins.[5]

Es werden die geistigen Prozesse in Arten der Bewusstseine aufgeteilt und deren Zusammenhänge analysiert. Diese Bewusstseine bedingen einander und sind jeweils Ursache und Wirkung voneinander. Wenn Phänomene sich manifestieren, wurden sie von einer Reihe geistiger Prozesse verursacht. Diese geistigen Prozesse transformieren die geistigen Objekte und prägen das Bewusstsein und bedingen dadurch die weiteren geistigen Manifestationen. Diese Aktivitäten sind so subtil, so dass man sie gar nicht erkennen kann. Deshalb bezeichnet das Sutra diese Prägungen und Wandlungen als „unvorstellbar“. Diese sich manifestierten Phänomene mit ihren Färbungen werden daher, ohne ihre Ursprünge zu erkennen, als gegeben betrachtet, und bedingen das  differenzierende Bewusstsein, welches zu weiteren Anhaftungen, Abneigungen und Zuneigungen führt. Diese „Ergreifung von allerlei Staub“ prägt seit „anfangloser (unermesslicher)“ Zeit tiefgründig das Bewusstsein mit „trügerischen Gedanken“. Daher bedingt das die Objekte differenzierend betrachtende Bewusstsein im Gegenzug auch das manifestierende Bewusstsein. Dieser Kreislauf von Transformation, Prägung, Manifestation und Ergreifung führt zum nahtlosen Fluss des geistigen Schauspiels: Phänomene entstehen und vergehen, aber sie bedingen die Entstehung weiterer Phänomene, deshalb sind sie nicht endgültig vergangen. Daher heißt es: „Diese zwei vergehen, ohne zu vergehen, sie bedingen einander laufend gegenseitig.“ So wie schon in den Beiträgen zum „Samdhi-Nirmocana-Sutra“ erläutert: Subjekt und Objekt verursachen einander, sie sind beide nicht real und daher nur trügerische Erscheinungsformen. Das Dasein bestehend aus den Bewusstseinen entsteht, verweilt und vergeht deshalb bedingt durch die Kontinuität und Erscheinungsformen.

Wenn wir zum Zitat zurückkommen, dann gibt es zum „manifestierenden“ und „die Objekte differenzierenden“ noch das „wirkliche Bewusstsein“. Was ist damit gemeint?

–> Fortsetzung: Teil 15: Das Lankavatara Sutra über das wirkliche Bewusstsein


[1] 爾時大慧菩薩摩訶薩復白佛言:「世尊!諸識有幾種生住滅?」——《楞伽阿跋多羅寶經卷第一》求那跋陀羅譯

[2] 佛告大慧:諸識有二種生住滅,非思量所知。諸識有二種生:謂流注生,及相生。有二種住:謂流注住,及相住。有二種滅:謂流注滅,及相滅。——《楞伽阿跋多羅寶經卷第一》求那跋陀羅譯

[3] 諸識有三種相:謂轉相、業相、真相。大慧!略說有三種識,廣說有八相。何等為三?謂真識、現識,及分別事識。——《楞伽阿跋多羅寶經卷第一》求那跋陀羅譯

[4] 大慧!譬如明鏡,持諸色像;現識處現,亦復如是。大慧!現識及分別事識,此二壞不壞,相展轉因。——《楞伽阿跋多羅寶經卷第一》求那跋陀羅譯

[5] 大慧!不思議薰及不思議變,是現識因。大慧!取種種塵,及無始妄想薰,是分別事識因。——《楞伽阿跋多羅寶經卷第一》求那跋陀羅譯

(Beiträge mit Korrekturen von Ursula Presslauer, Birgit Seissl, Florian Feld, Pascal Hauser, Jörg Hollenstein, Alexander Maurer und Rolland Parth)




Kategorien:Buddhismus China, Lankavatarasutra

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  1. Über die Übersetzung und Verbreitung des Lankavatara Sutras in China – DER WEG DER EINHEIT

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