Anekdote: Der Fluss des Loslassens im Sog der Schönheit

In einer fernen Zeit begab sich der weise Zen-Meister Ikkyu mit seinem Schüler auf eine Reise, um fernab der Stadt die Weisheit zu verkünden. Ihr Weg führte sie durch eine Landschaft, die von einem wilden Fluss durchzogen war, welcher eine Brücke hinweggerissen hatte. Entschlossen, ihr Ziel zu erreichen, sahen sie sich gezwungen, durch das reißende Wasser zu schreiten.

Als sie sich anschickten, den Fluss zu durchqueren, gewahrten sie am Ufer eine junge Dame von anmutiger Gestalt, die in sichtlicher Unruhe auf und ab ging. Ikkyu trat zu ihr und erkundigte sich: „Hast du dringende Geschäfte jenseits des Flusses?“ Die junge Dame antwortete mit einem Hauch von Verzweiflung: „Ich muss unbedingt in das Dorf auf der anderen Seite gelangen, um meiner kranken Mutter beizustehen. Die Brücke wurde von den Fluten fortgerissen, und kein Boot ist verfügbar, um mich zu tragen. Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll.“

Ikkyu verweilte einen Augenblick in Gedanken und sprach dann: „So sei es, ich werde dich auf meinem Rücken über den Fluss tragen.“ Anfänglich zögerte die junge Dame, in Anbetracht der gesellschaftlichen Konventionen, die solche Nähe zwischen Mann und Frau nicht billigten. Doch in der Ehrfurcht vor Ikkyus Würde und Weisheit willigte sie schließlich ein.

Über die Wogen des Flusses trug Ikkyu die junge Dame, während sein Schüler, unwissend über die Umstände, Zweifel in seinem Herzen hegte. Er sah darin einen Bruch mit den Lehren seines Meisters, der stets zur Meidung weltlicher Verlockungen gemahnte und nun einer schönen Frau beistand. Die Tage vergingen, doch der Schüler konnte nicht ablassen von dem Gedanken, dass sein Meister eine Frau auf seinem Rücken getragen hatte. Schließlich, eines Tages in der Stille des Studierzimmers, wagte der Schüler sein Unbehagen zu äußern. Ikkyu schlug kraftvoll auf den Tisch und sprach mit strengem, aber gütigem Ton: „Mein Freund, du machst es dir wirklich schwer! Ich trug die Frau über den Fluss und ließ sie dort. Du aber trägst du sie noch immer in deinem Herzen!“



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