Dharmaschatz Podiumsutra d. 6. Ahnlehrers
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Kap. 1 (5): Der natürliche Sinn ist der wahrhaftige Sinn
— Begleitlektüre zum wöchentlichen Drei Schätze Retreat am 17.10.2019
Im Retreat vom 10.10.2019 sind wir dort stehen geblieben, wo der 5. Ahnlehrer Hongren zu Mitternacht Shenxiu zu sich ins Gemach geholt hat und ihn fragte, ob er das Gedicht entworfen und an die Mauer des südlichen Korridors gemalt hat. Hiermit nochmals das Gedicht:
Der Körper gleicht dem Bodhi-Baum,
das Herz ist wie das Spiegelgestell.
Ständig hat man es zu putzen,
damit kein Staub daran haftet.
Shenxiu gab zu und betonte, dass er die Stellung des Ahnlehrers nicht begehrte. Er wollte lediglich wissen, ob sein Gedicht „ein wenig Weisheit“ aufwies. Der Meister antwortete ihm:
„Du hast dieses Gedicht entworfen, ohne das ursprüngliche (natürliche) Wesen erkannt zu haben. Du bist nur bis zur Tür gekommen, aber noch nicht eingetreten. Mit solcher Ansicht das vollkommene Erwachen zu suchen – dies wird nicht zu erreichen sein. Beim vollkommenen Erwachen hat man unmittelbar den ursprünglichen (natürlichen) Sinn zu erkennen und das ursprüngliche (natürliche) Wesen zu erblicken: es ist weder geboren noch erloschen; Zu jeder Zeit bei jedem Gedanke erkennt man es: keines der zehntausenden Phänomene wird noch zum Hindernis. Dies eine Wahre (Natur) bewirkt alles Wahre, und sämtliche Zustände sind eins mit dem natürlichen Sinn. Der natürliche Sinn ist (der) wahrhaftig(e Sinn). Gelangt man zu solcher Sicht, dann entspricht das dem vollkommen erwachten (natürlichen) Wesen. „[i]
Der Ahnlehrer hat zwar alle Schüler angewiesen, das Gedicht von Shenxiu zu ehren und zu rezitieren, aber er wusste genau, dass Shenxiu noch nicht sein natürliches Wesen erkannt hat. Er steht aber sehr wohl kurz davor, und der Ahnlehrer möchte ihm auf die Sprünge helfen. Er erklärte ihm, was sein Hindernis war. Er wies daraufhin, dass seine Sichtweise nicht ganz korrekt war. Sehen wir uns das Satz für Satz an:
„Beim vollkommenen Erwachen hat man unmittelbar den ursprünglichen (natürlichen) Sinn zu erkennen und das ursprüngliche (natürliche) Wesen zu erblicken: es ist weder geboren noch erloschen.“
Der Ahnlehrer betont hier „unmittelbar“, d. h. in dem Moment der Vernehmung seiner Worte müsste man es begreifen. Wenn man noch lange nachdenken muss, dann ist es nicht die wahre Erkenntnis. Der natürliche Sinn ist die Wirkung des natürlichen Wesens. Das natürliche Wesen ist kein (fixes) Ding und hat keine (festen) Formen. Es ist schwer durchs Denken zu erschließen, denn jeder Gedanke verliert sich in Polaritäten und hindert einen daran, es direkt zu erfassen. Man erkennt es anhand seiner Wirkung. Diese stellt die Gedanken und die Sinnesregungen dar. Durch die verblendete Sicht könnten aber „unnatürliche“ Wirkungen entstehen, die nicht authentisch sind. Erlangt man den authentischen Sinn, nähert man sich dem natürlichen Wesen. Jeder Gedanke oder jede Sinnesregung kommt und geht, d. h. „geboren und erloschen“. Das natürliche ursprüngliche Wesen verweilt in der Soheit: Dieses ist daher weder „geboren noch erloschen“. Man kann es mit dem Meer vergleichen: die Wellen steigen auf und ab, d. h. entstehen und vergehen, aber das Wasser unter den Wellen hat weder ein Auf noch ein Ab. Dennoch sind die Wellen mit dem Meer verbunden: sie sind eins und nicht voneinander zu trennen.
Shenxiu betrachtet sein Herz als einen Spiegel, in welchem die vielfältigen Gegenstände der Außenwelt erscheinen. Die Spiegelbilder werden sozusagen „geboren“ und „erlöschen“ je nach den äußeren Umständen. Dennoch sind diese Spiegelbilder nicht Dinge, die von außen hereingekommen sind, sondern aus sich heraus bei gegebenen Bedingungen (Spiegel+Spiegelobjekte) entstanden sind. Die Spiegelbilder von seiner Quelle trennen und vernichten zu wollen, ist es so wie wenn man die Wellen vom Meer trennen möchte. Man soll einfach nur erkennen, dass diese „Spiegelbilder“ nur Auswirkungen des natürlichen Wesens darstellen, die bedingt entstehen und vergehen. Haftet man nicht an diese, dann verschwinden sie wieder, wenn die Spiegelobjekte vergehen, wie die Meereswellen, die wieder zum Meer zurückkehren, ohne aber jemals das Meer verlassen zu haben. In der Regel betrachten die Menschen diese Spiegelbilder als wahr und haften an diesen an . Diese „Bilder“ (die weltlichen Phänomene) festhalten zu wollen, sie im eigentlichen Sinne „für wahr zu halten“, führt letztendlich nur zu Frustration, zu Leid (Unzulänglichkeit, Dukkha). Das ist gemeint, wenn der Ahnlehrer sagt, dass die Menschen nur nach dem (weltlichen) Glück streben, und nicht daran denken, sich vom Ozean des Leidens zu befreien. Welch eine Erlösung hingegen, wenn man durchschaut, dass diese Bilder nur flüchtige Manifestationen des Spiegels sind, und losgelassen gehören. Das ist, was der Buddha als die Leidensentstehung und den Prozess der Leidensauflösung bezeichnet hat.
Die Unwissenheit ist es, die dazu drängt, Vorstellungen realisieren zu wollen, welche nicht dauerhaft sind. Durchbricht man die Unwissenheit und lässt diese los, erfährt man den Zustand der reinen, klaren Ruhe. Shenxiu vergleicht den Zustand mit einem reinen Spiegel ohne Staub. Die Triebe haben sich beruhigt, und man findet Genügen in der Stille. Man gerät aber dabei in die Sackgasse, an der Ruhe und Klarheit wiederum anzuhaften, versteht diese als einen statischen Endzustand und bemüht sich diesen beizubehalten. Es entstehen neue Gedankenbilder: Shenxiu sieht seinen Körper als den Bodhi-Baum und sein Herz als ein Spiegelgestell. Dies wird wiederum zu seinem Hindernis. Das natürliche Wesen ist kein statischer Zustand und daher auch nicht mit einem festem Gegenstand wie ein Spiegel vergleichbar. Sowohl die reine klare Ruhe als auch die „zehntausend Phänomene“ sind natürliche Zustände, die sich ständig in Fluss befinden. Versucht man sie festzuhalten, widerstrebt das dem natürlichen Lauf der Dinge. Es ist wie das Wasser, das an einer Blume vorbeifließt, es bleibt nicht stehen, um die Schönheit der Blume zu bewundern. Auch geht es dieser nicht aus dem Weg, um kein Spiegelbild der Blume zu erzeugen. Es fließt vielmehr einfach weiter, die Blume ist für es weder da noch nicht da. Seine natürliche Wirkung vollzog sich dennoch: die Blume wurde mit Flüssigkeit versorgt. Oder: die Sonne geht täglich auf und ab, bringt weder mehr Licht und Wärme für die guten Menschen noch weniger für die schlechten. Für die Sonne sind sie weder gut noch böse, ihre natürliche Wirkung vollzieht sich einfach.
„Zu jeder Zeit bei jedem Gedanke erkennt man es: keines der zehntausenden Phänomene wird noch zum Hindernis.“
Es ist eine tiefe eingewurzelte Gewohnheit, die Bildnisse als wahr und als ein fixiertes Ich zu betrachten, sodass man das natürliche Wesen aus den Augen verliert. In diesem Fall ist es nützlich, so zu praktizieren wie in Shenxius Gedicht beschrieben: Ständig den Spiegel zu putzen, damit kein Staub an ihm haftet. Es ist zwar nicht das endgültige Ziel, verhindert aber, dass man vom Weg dorthin abkommt. Wenn man es aber schafft, diese gewohnte Sicht zu durchbrechen, kommt das natürliche Wesen ungehindert zur Wirkung. Dann arbeiten zwar alle Sinne wie gewohnt, man haftet aber nicht mehr an dem „Staub“ an, somit entsteht also keine Verblendung mehr. Die „zehntausend Phänomene“, die ja in Manifestationen des natürlichen Sinnes in Interaktion mit dem Umfeld bestehen, verhindern die freie Entfaltung des natürlichen Wesens nicht mehr. Ein Gleichnis aus dem Sutra sagt: haftet man an Zuständen (oder Bildern) an, gibt es Geburt und Vergehen: wie Wasser, das beginnt, Wellen zu schlagen. Löst man sich davon, gibt es keine Geburt und kein Vergehen mehr: wie Wasser, das ungehindert fließt. Somit kann keines der zehntausend Phänomene mehr ein Hindernis werden.
„Dies eine Wahre (Natur) bewirkt alles Wahre, und sämtliche Zustände sind eins mit dem natürlichen Sinn. Der natürliche Sinn ist (der) wahrhaftig(e Sinn).“
Wie gesagt umfasst der natürliche Sinn alle Erscheinungen, die aus dem natürlichen Wesen entstehen. Kommt das natürliche Wesen zum Wirken, sind die Erscheinungen authentisch. Wahrnehmung und Wesen werden identisch. Sie sind nicht mehr differenziert. Das Verhältnis der beiden gleicht jetzt dem von Lichtquelle und Licht. Shenxiu betrachtet sein Herz als schutzwürdig und den Sinnesstaub als Feind. Dies ist die differenzierende Sichtweise. Die vielfältigen Erscheinungen als eigenständig anzusehen und ihre gemeinsame Quelle zu vergessen, das ist, um mit einem bekannten Gleichnis zu reden: auf dem Ochsen sitzend den Ochsen zu suchen. Ohne Verblendung wirkt das natürliche Wesen ungehindert, so sind alle Erscheinungen authentisch und entsprechen dem natürlichen Sinn, denn: Der undifferenzierte Sinn ist der wahre Sinn!
Wir können also drei Stadien der Praxis erkennen:
- Bedingtes Entstehen und Erlöschen: verfangen sein im Begehren nach dem Unbeständigen
- Genügen im Erloschensein: das Begehren ist erloschen, man erlangt die reine, klare Ruhe.
- Weder entstanden noch erloschen: frei im natürlichen Sein, ohne Anhaftung
Dazu passt ein Koan, in welchem ein Meister seine Praxiserfahrung mitteilt und mit dem wir unsere Betrachtung abschließen:
Bevor ich mit der Chan-Praxis begann, sah ich Berge wie Berge, Wasser wie Wasser. Als ich dann den Zugang fand, dann sah ich Berge nicht mehr wie Berge, Wasser nicht mehr wie Wasser. Jetzt nun habe ich die Raststelle gefunden, und sehe Berge einfach wie Berge, Wasser einfach wie Wasser.
Podiumsutra – Kap. 1 (6): Ursprünglich ist es ohne Ding, wo nun ist hier der Staub? –>
<– Podiumsutra – Kap. 1 (4): Ständig hat man es zu putzen, damit kein Staub dran haftet!
[i] 祖曰:‘汝作此偈,未见本性,只到门外,未入门内。如此见解,觅无上菩提,了不可得;无上菩提,须得言下识自本心,见自本性不生不灭;于一切时中,念念自见万法无滞,一真一切真,万境自如如。如如之心,即是真实。若如是见,即是无上菩提之自性也。
Autoren: Mingqing Xu, Alexander Maurer
Übersetzung der Zitate: Mingqing Xu, Alexander Maurer
Lektoren: Pascal Hauser, Birgit Seissl, Ursula Presslauer
Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Podiumsutra
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