Dharmaschatz Podiumsutra d. 6. Ahnlehrers
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Kap. 1 (6): Ursprünglich ist es ohne Ding, wo nun ist hier der Staub?
— Begleitlektüre zum wöchentlichen Drei Schätze Retreat am 24.10.2019
Wir sprachen zuletzt über das Urteil des Ahnlehrers Hongren (601-675) zum Gedicht vom Shenxiu (607-707). Hongren forderte Shenxiu an, sich für ein paar Tage weiter zu sammeln und ein neues Gedicht zu verfassen. Währenddessen wurde sein Gedicht im ganzen Kloster bekannt, so ging eines Tages ein Knabe bei der Reismühle vorbei und rezitierte das Gedicht vor sich hin. Huineng erkannte spontan, dass dieses Gedicht nicht das natürliche Wesen erfasste. Ohne eine Unterweisung erhalten zu haben, begriff er bereits die wesentliche Bedeutung. Er erkundigte sich bei dem Knaben nach der Herkunft des Gedichtes und bat ihn, ihn zu besagter Wand zu führen, damit er sich vorm Gedicht ehrfürchig verbeugen könne. Im Korridor bat Huineng die Anwesenden, ihm das Gedicht vorzulesen, da er ja nicht lesen konnte. Ein Offizier namens Zhang Riyong war dazu bereit. Huineng bat ihn daraufhin, ein von ihm diktiertes Gedicht auf die Mauer zu schreiben. Auf Zhang Riyongs Verwunderung und Skepsis, wie denn „der unzivilisierte Analphabet“ ein Gedicht entwerfen könne entgegnete Huineng:
„Wer vollkommenes Erwachen erlangen möchte, sollte niemals Neulinge geringschätzen. Niedere können hohe Weisheit aufweisen, Höhere können verblendete Ansicht haben. Wer aus Überheblichkeit Neulinge geringschätzt, begeht eine unermessliche Verfehlung.“[i]
Dies sind berühmte Sätze im Chan-Buddhismus. Die Überheblichkeit stellt eine schwierige Hürde in der Selbstkultivierung dar. Insbesondere in einer fortgeschrittenen Phase fällt man sehr leicht in diese Falle. Daher wird der Übung der Bescheidenheit, verbunden mit Etiketten und Ethik, in vielen Schulen enormer Bedeutung beigemessen.
Diese Worte machten großen Eindruck auf Zhang Riyong und er schrieb für Huineng sein Gedicht auf die Mauer:
Bodhi hat keinen Baum,
der Spiegel ist kein Gestell.
Ursprünglich ist es ohne Ding,
wo nun ist hier der Staub?[ii]
Jede Verszeile antwortet je einer des Gedichtes von Shenxiu. Gegenübergestellt sehen die zwei Gedichte so aus:
| Shenxius Gedicht | Huinengs Gedicht |
| „Der Körper gleicht dem Bodhi-Baum“ | „Bodhi hat keinen Baum“ |
| „Das Herz ist wie ein Spiegelgestell“ | „Der Spiegel ist kein Gestell“ |
| „Ständig hat man es zu putzen“ | „Ursprünglich ist es ohne Ding“ |
| „Damit kein Staub daran haftet“ | „Wo nun ist hier der Staub?“ |
Gehen wir wieder Zeile für Zeile durch:
Vers 1:
| „Der Körper gleicht dem Bodhi-Baum“ | „Bodhi hat keinen Baum“ |
Der Bodhi-Baum ist ein Symbol für Reinheit und Weisheit. Wird er mit dem Körper verglichen, drückt der Verfasser des Gedichts eine erfolgreiche Kultivierung der buddhistischen ethischen Prinzipien aus. Bedeutet dies nun Übung in strenger Zurückgezogenheit, oder Vervollkommnung der Übung der Sitzmeditation? Da Shenxiu in einer großen Gemeinschaft lebt und Meistervertreter ist, kann er wohl schwerlich in Einsiedelei gelebt haben. Also trifft wohl die zweite Möglichkeit zu. Fortgeschrittene in der Meditationsübung können in einem solchen Zustand feststecken. Um diese Tendenz besser zu verstehen, machen wir eine kleine Anmerkung darüber, wie der Buddhismus den Körper betrachtet.
Eine bekannte buddhistische Praxis ist die „Betrachtung der Unbeständigkeit und Unreinheit des Körpers“. Man spricht von einer bedingten, nicht dauerhaften Ansammlung der „vier Elemente“ der traditionellen indischen Naturlehre: Erde (fest), Wasser (flüssig), Feuer (Hitze), Luft (luftförmig; dynamisch). Sind die Bedingungen gegeben, kommen sie zusammen und bilden eine Form. Fallen die Bedingungen weg, zerfällt sie wieder. Ein „unbelehrter, gewöhnlicher Mensch“ betrachtet den Körper als das Ich, haftet daran und sehnt sich nach der dauerhaften Erhaltung des Körpers. Es geht darum zu sehen, dass der Körper in keinem Moment gleich und beständig ist: die Zellen erneuern sich permanent, durch den Stoffwechsel geben wir ständig Materie und Energie ab. Krankheit, Altern und Sterben schaffen unweigerlich Kummer und Schmerz. Durch diese Einsicht verringert sich das Anhaften an den Körper, und Gelassenheit stellt sich ein.
Das bedeutet das Loslassen des Körpers. Der Drang nach Befriedigung von materiellen Trieben wird schwächer. Herz beziehungsweise Geist finden Ruhe. Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, können dazu neigen, materielle Triebe als Ursache für Unruhe im Herzen negativ zu sehen, und strengen sich an, diese radikal zu unterbinden. Dies kann bis zur extremen Askese und Einsiedelei führen. Der historische Buddha hat anfangs auch in dieser Form praktiziert und erlitt beinahe den Hungertod. Er sah dann ein, dass eine strenge Unterdrückung von körperlichen Bedürfnissen unnatürlich ist und nicht zielführend sein kann. Ob man den Trieben nun nachläuft oder sie streng unterdrückt: in beiden Fällen hegt man Anhaftung an den Körper und vernachlässigt dabei die Bedingung der Unruhe, nämlich im Geist. Hat man im Inneren nicht losgelassen, dann hat jede zwanghafte Einschränkung des Körpers nur eine zeitweilige und scheinbare Wirkung.
Huinengs Gedicht besagt, dass das Bodhi (das Erwachen) nichts mit dem Baum (dem physischen Körper) zu tun hat. Wenn das natürliche Wesen verblendet ist, man an falschen Ansichten festhält, hilft die strenge Disziplinierung des Körpers nicht weiter. Das Erwachen ist die Erlösung von den Bedingungen der Unruhe im tiefen Bewusstsein. Der Weg der Selbstfindung soll daher nicht von außen nach innen gehen, sondern direkt vom inneren Kern (vom natürlichen ursprünglichen Wesen) ausgehen. Das natürliche Wesen ist an keine Form gebunden, daher „Bodhi hat keinen Baum“.
Vers 2:
| „Das Herz ist wie ein Spiegelgestell“ | „Der Spiegel ist kein Gestell“ |
Mit dem Spiegel beschreibt Shenxiu seine geistige Klarheit, die alle Vorgänge im Herzen wiederspiegelt und bemerkt. Dies ist die Achtsamkeit, die er durch die tiefe Versenkung bzw. Stabilität des Geistes erlangt hat. Man findet Gefallen an der klaren Ruhe und haftet an diesem Zustand an. Dabei betrachtet er “Spiegel” (Geist-Herz) und “Staub” (Geistestrübungen) als zweierlei Dinge, wobei er die Reinheit des “Spiegels” begehrt und den unreinen “Staub” verabscheut. Huineng sagt, dass das Geist-Herz nicht mit etwas Statischem wie ein Spiegel verglichen werden kann, da es, genauso wie der Körper, leer ist und bedingt entsteht und vergeht. Somit sind Geist-Herz und die Geistestrübungen einander produzierende Bedingungen. Im Wesen sind sie daher leer ohne unabhängiges eigenständiges Wesen.
Sehen wir dazu, wie der Buddhismus das Geist-Herz beschreibt. Das gesamte physische und psychische Dasein wird mit den fünf Skandhas (Ansammlungen, Anhaftungen) erklärt:
- Form (Rupa; 色 sè): materielles, formhafte Dasein; Körper; die Ansammlung der vier Elemente
- Empfindung (Vedana; 受 shòu): über die Sechs Sinne; entweder angenehm, unangenehm oder neutral; eine erste eher passive, instinktive Reaktion
- Wahrnehmung (Sanna; 想 xiǎng): geistige Wahrnehmung, Realisierung und Identifikation/Unterscheidung der Empfindungen: Farben/Bilder, Töne, Gerüche, Geschmäcker, Getastetes, Geistesobjekte/Gedanken
- Formation (Sankhara; 行 xíng): Willenstätigkeiten wie Interessen, Willensregungen, Sehnsüchte und Tatabsichten. Der Mensch reagiert und interpretiert die Wahrnehmungen. Hier entstehen Vorstellungen, Begierden und Sehnsüchte, die das Handeln auf der geistiger, verbaler und körperlicher Ebene beeinflussen.
- Bewusstsein (Vinanna; 识 shí): Es ist das Produkt der vier ersten Daseinsfaktoren. Die Projektion der Außenwelt in sich lässt ein „Selbst“ entstehen, welche die Führung unseres Handelns übernimmt. Diese Ansammlung bildet Einstellungen, Ansichten, Neigungen und Abneigungen, die unser Denken und Handeln bestimmen. Dieses Ego wird zur tief eingesessene Gewohnheit, die man i. R. bei Rede und Handlungen nicht hinterfragt. Nachdem aber diese Projektion nur eine Ansammlung unzähliger Sinnesobjekte sind, sind sie stets im Wandel. Deshalb wechseln sich gute, böse, angenehme, unangenehme oder neutrale Gedanken in kaum bemerkbaren Zeitabständen ab. Genauso wie der Körper ist dieses „Ich“ in keinem Moment gleich.
In der Regel realisiert man diese innere Vorgänge nicht und handelt einfach. Praktiziert man eine Zeit lang die kontemplative Übung, wird einem dies immer mehr bewusst – nämlich wenn es einem gelingt, selbst feine Regungen im Inneren zu bemerken. Man erlebt auch den Zustand der Leere und Stille, wo gar keine Gedanken mehr auftauchen. Der Geist wird dann mit dem Spiegel verglichen, so wie Shenxiu es gemacht hat. Huineng widerspricht, indem er sagt, dass es keinen Spiegel gibt. Damit meint er, selbst der Zustand der Leere und Stille ist eine Wahrnehmung, die zum Bewusstseinszustand formiert wird. Letztlich hat man nur eine neue Projektion geschaffen, die als das Ich gesehen wird. Das Festhalten an der Leere und Stille führt daher zu einer neuen Anhaftung, welche wiederum Abneigung und Neigung verursacht. Man wird dabei weltabgewandter und verabscheut gesellschaftliche Aktivitäten. Das ist so wie wenn man das klare Wasser eines Teiches vor Unreinigkeiten schützt. Da die daraus entstehenden Neigungen und Abneigungen nur wieder zu Unzulänglichkeiten führen, soll man auch der Leere und Stille keine Beachtung schenken, vielmehr übt man in der Soheit, in jeder Situation. Die Soheit ist die authentische Reaktion des natürlichen Wesens auf das Umfeld ohne jegliche Anhaftung.
Vers 3 + Vers 4:
| „Ständig hat man es zu putzen“ | „Ursprünglich ist es ohne Ding“ |
| „Damit kein Staub daran haftet“ | „Wo nun ist hier der Staub?“ |
Alles in allem hängt unser Schicksal von unseren Gedanken ab. Ohne Achtsamkeit erntet man ständig nur die Früchte vergangener Gedanken, Worte und Handlungen. Es gibt im Chan-Buddhismus das Spichwort „Der eine Gedanke das Paradies, der andere die Hölle.“:
Im spiegelklaren Zustand bemerkt Shenxiu die Sinneswahrnehmungen und Gefühlen sowie Gedanken sofort, daher lässt er diese gar nicht weiter zur Willens- und Bewusstseinsbildung kommen. Dies nennt er das ständige „Putzen des Spiegels, damit kein Staub daran haftet“.
Huineng meint dazu, dass es gar kein Ding gibt, an dem sich Staub anhaften kann. Das Bewusstsein ist letztendlich eine eingebildete Illusion, die aufgelöst wird, wenn man es durchschaut und ihm keine Beachtung schenkt. Der „Staub“ ist nur ein vorübergehender Impuls, der sofort wieder vergeht, wenn man ihn nicht beachtet. Wo also soll in diesem Sinne Staub sein? Zerfällt die Illusion des Bewusstseins, folgt die Befreiung, man gelangt zum natürlichen Sein.
Ein Gleichnis dazu:
Wie bewahrt man einen Wassertropfen vor dem Austrocknen? Indem man ihn ins Meer wirft.
Podiumsutra – Kap. 1 (7): Ohne jegliche Anhaftung entsteht der Sinn –>
<– Podiumsutra – Kap. 1 (5): Der natürliche Sinn ist der wahrhaftige Sinn
[i] 欲学无上菩提。不可轻于初学。下下人有上上智。上上人有没意智。若轻人。即有无量无边罪。
[ii] 菩提本无树,明镜亦非台;本来无一物,何处惹尘埃。
Autoren: Mingqing Xu, Alexander Maurer
Übersetzung der Zitate: Mingqing Xu, Alexander Maurer
Lektoren: Pascal Hauser, Birgit Seissl, Ursula Presslauer
Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Podiumsutra
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