„Was ist das?“ – Das Koan zum Yunyan Tansheng (782-841)

——Beitragsreihe: Die Koans zur Geschichte des Zen-Buddhismus

Wir setzen fort mit der Entstehung der Caodong-Schule (jap.: Soto-shu). Die Soto-Schule stellt heute mit über zehntausend Tempeln und Millionen von Anhängern neben der Rinzai- und Obaku-Schule die größte der drei japanischen Hauptrichtungen des Zen in Japan dar und ist eine der bedeutendsten buddhistischen Gemeinschaften des Landes. Seit den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich die Soto-Schule durch die Missionsarbeit mehrerer japanischer Lehrer auch in der westlichen Welt verbreitet. Bekannte Lehrer waren z. B. Suzuki Shunryu (1905–1971, USA), Taizan Maezumi (1931–1995, USA) und Taisen Deshimaru (1914–1982, Frankreich). Spricht man von der Soto-Schule, hört man oft den Leitsatz „Nur sitzen“ (jap. Shikantaza), der auf die Sitzmeditation als zentralen Aspekt der Praxis hinweist. Blickt man jedoch auf den Ursprung der Schule in China zurück, so lässt sich dieser Schwerpunkt nicht erkennen. In den Koans über die ersten Lehrer der Schule wird die Sitzmeditation nicht thematisiert.

Wie bereits im letzten Beitrag erwähnt, stammt die Soto- oder Caodong-Schule von Shitou Xiqian, dem „Seltenen Wandel vom Felsen“ (700-790), ab. Sein Schüler Yaoshan Weiyan (782-841), der „Seriöse vom Medizinberg“, markiert den eigentlichen Beginn der Schule. Die Namen der zen- oder chan-buddhistischen Linien sind in der Regel nach ihren Gründern benannt. Im Fall der Caodong-Schule beziehen sich die Namen auf Dongshan Liangjia (807–869) und Caoshao Benji (840–901), wobei der Letztere Schüler des Ersteren war. Um Dongshan Liangjia besser zu verstehen, müssen wir zuerst seinen Lehrer, Yunyan Tansheng, den „Blühenden vom Wolkenfelsen“ kennenlernen. In diesem Beitrag geht es um das Koan zwischen diesem ‚Blühenden“ und seinem Lehrer, dem „Seriösen“.

Yunyan Tansheng, der „Blühende“, stammte aus der Familie Wang im Kreis Zhongling-Jianchang (heute die Stadt Nanchang in der Provinz Jiangxi). Im Alter von etwa 14 Jahren wurde er als Mönch ordiniert und lernte unter Baizhang Huaihai (749–814), dem „Großmütigen vom Erhabenen Felsen“. Zwanzig Jahre lang studierte er dort, ohne einen Durchbruch zu erlangen. Nach dem Tod des „Erhabenen Felsen“ besuchte er weitere bekannte Lehrer seiner Zeit. Schließlich suchte er Yaoshan Weiyan, den „Seriösen vom Medizinberg“, auf. Ihr erstes Gespräch verlief folgendermaßen:

Der Seriöse fragte: „Woher kommst du?“

Der Blühende antwortete: „Vom Erhabenen Felsen.“

Der Seriöse fragte weiter: „Was hat der Erhabene Felsen dich gelehrt?“

Der Blühende erwiderte: „Er sagte oft: ‚Ich habe einen Spruch. Er umfasst hundert Geschmäcker.‘“

Der Seriöse entgegnete: „Salzig ist salzig, nicht salzig ist nicht salzig. Weder salzig noch nicht salzig ist der gewöhnliche Geschmack. Was bedeutet es, hundert Geschmäcker zu umfassen?“

Der Blühende wusste keine Antwort.

Der Seriöse fragte: „Wie steht es momentan um Geburt und Tod?“

Der Blühende antwortete: „Momentan gibt es weder Geburt noch Tod.“

Der Seriöse fragte weiter: „Wie lange warst du beim Erhabenen Felsen?“

Der Blühende: „Zwanzig Jahre.“

Der Seriöse sagte: „Zwanzig Jahre beim Erhabenen Felsen, und noch immer hast du die weltlichen Züge nicht abgelegt.“

[…]

Eines Tages fragte der Seriöse erneut: „Was hat der Erhabene Felsen sonst noch gelehrt?“

Der Blühende antwortete: „Einmal war er bei einem Lehrvortrag. Alle standen ruhig. Der Erhabene Felsen wies mit seinem Gehstock alle an, zu gehen. Dann rief er sie zurück. Als alle sich umdrehten, fragte er: ‚Was ist das?‘“

Der Seriöse sagte: „Warum hast du das nicht früher gesagt? Durch dich habe ich nun den Erhabenen Felsen sehen können.“

In diesem Moment erwachte der Blühende und verbeugte sich.[1]

Was der Blühende in diesem Moment begriff, wird nicht erklärt. Dennoch blieb er und praktizierte noch viele Jahre beim Seriösen. Später zog er sich auf den Berg „Wolkenfelsen“ zurück und begann dort, „von Herz zu Herz“ zu lehren. Von Sitzmeditation war also keine Rede. Die Tradition des reinen Sitzens, Shikantaza, erlangte erst in der japanischen Soto-Schule größere Bedeutung. Die Übertragung der Caodong-Schule nach Japan erfolgte erst etwa 500 Jahre später durch den japanischen Mönch Dogen. Der Blühende erhielt seinen Beinamen durch seinen Sitz am „Wolkenfelsen“ und war seither als „Der Blühende vom Wolkenfelsen“ bekannt. Er gewann zahlreiche Schüler, darunter Dongshan Liangjia, der „Wertvolle vom Grottenberg“, der zum eigentlichen Begründer der Caodong- oder Soto-Schule wurde. Im nächsten Beitrag geht es um diesen „Wertvollen“.


Organigramm zur Genealogie der Gründer der fünf Schulen


<<<„Wie auf einem Stein eine Blume zu pflanzen“ – Die Koans zum Yaoshan Weiyan

Die Koans zum Dongshan Liangjia>>>


[1] 鍾陵建昌王氏子。(高僧傳。生有自然胎衣。右袒猶緇服)少出家於石門。參百丈海禪師。二十年。因緣不契。後造藥山。山問。甚處來。曰百丈來。山曰。百丈有何言句示徒。師曰。尋常道。我有一句子。百味具足。山曰。鹹則鹹味。淡則淡味。不鹹不淡是常味。作麼生是百味具足底句。師無對。山曰。爭奈目前生死何。師曰。目前無生死。山曰。在百丈多少時。師曰。二十年。山曰。二十年在百丈。俗氣也不除。他日侍立次。山又問。百丈更說甚麼法。師曰。有時道三句外省去。六句內會取。山曰。三千里外且喜沒交涉。山又問。更說甚麼法。師曰。有時上堂。大眾立定。以拄杖一時趂散。復召大眾。眾回首。丈曰是甚麼。山曰。何不早恁麼道。今日因子得見海兄。師於言下頓省。便禮拜。——《指月錄卷之十二 六祖下第四世 潭州雲巖曇晟禪師》



Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Koan/Gong-An

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