Wie jedes Jahr fungierte ich als Simultanübersetzer bei unserem 7-tägigen Retreat. Die ständige Umschaltung zwischen dem Modus „Übersetzen“ und „Meditieren“ war natürlich eine sehr gute Übung für mich. Es ist jedes Mal eine große Herausforderung für mich, die vielen weisen Worte vom Kursleiter, Meister Cai aus Taiwan, unmittelbar in Deutsch zu übersetzen. Schließlich sind chinesische Elemente dabei, die ich so auslegen muss, sodass sie von österreichischen Teilnehmern verstanden und aufgefasst werden können. Verglichen mit den chinesischen Retreats in Taiwan weiß ich, dass Meister Cai die Inhalte schon sehr auf die westlichen Menschen maßgeschneidert hat. Man muss es schätzen, dass der fast 80 Jahre alte Meister jedes Jahr von Taiwan nach Österreich kommt und das Retreat leitet. Es ist bewundernswert, wie er unermüdlich die Teilnehmer zur Übung motiviert und berät. Dazu leitet er noch die morgendlichen Aufwärmübungen, läuft bei der Laufmeditation teilweise mit und macht noch bei den Yoga-Übungen mit. Ich wünschte es mir, dass ich in diesem Alter auch noch so gesund und geschmeidig wie er sein werde.
In den Einzelberatungen nachmittags können die Teilnehmer mit dem Meister persönlich über die täglichen Erfahrungen reden. Es gab in diesem Retreat wieder viele interessante Erfahrungen. Allerdings ist jede Erfahrung ein individuelles Erlebnis, was nicht unbedingt auch bei anderen vorkommen würde. Ohne den Namen des betroffenen Teilnehmers zu nennen, möchte ich einige davon hier mit allen teilen, um zu zeigen, wie die Meditation wirken könnte:
Bericht 1: Ich erlebte einen Zustand, als würde ich keine Gedanken mehr haben. Es war so einfach, auf das Mantra zu achten, denn es gab keine Störung mehr. Ich hatte das Gefühl, als würde ich in eine vollkommene geistige Leerheit eintreten.
Bericht 2: Mir kamen Erinnerungen hoch, die mich früher völlig aus der Verfassung gebracht hätten. Nun aber stören mich diese überhaupt nicht mehr. Diese wirken für mich wie abgeschlossen.
Bericht 3: Ich habe seit langer Zeit Angstzustände und einen wiederkehrenden Traum, in welchem ich gejagt werde. Die ersten Tage des Retreats waren daher sehr anstrengend für mich. Dann hatte ich nachts wieder diesen Traum. Diesmal aber bin ich im Traum nicht mehr davon gelaufen, sondern habe mich dem Verfolger gestellt. Seitdem sind die Angstzustände nicht mehr gekommen. Es fühlte sich sehr gut an.
Bericht 4: Ich habe es nie wirklich begriffen, was es heißt, im Herzen losgelassen zu haben. Insbesondere tat ich mir schwer, beim Laufen zu meditieren, weil ich es nicht begreife, was es mir bringen soll. Bei einer Laufmeditation diesmal sagte ich mir einfach ein, dass ich nicht mehr darüber nachdenken soll, sondern mich einfach nur auf den Rhythmus mit dem Mantra konzentriere. Nach dem Laufen war ich bei der darauffolgenden Sitzmeditation derart tief versunken, und es war so ruhig, sodass ich zum ersten Mal die Freude des Loslassens gespürt habe.
Bericht 5: Ich habe schon mehrmals an diesem Retreat teilgenommen. Es kam jedes Jahr vor, dass ich zwischendurch mal den Gedanken hege, frühzeitig das Retreat zu verlassen. Aber diesmal habe ich das Gefühl, dass die Zeit so schnell vergeht und es mir dabei sehr gut geht. Es sind auch generell weniger Gedanken, die mich stören. Der Zustand der Ruhe und Klarheit ist diesmal sogar von Tag zu Tag noch stabiler geworden.
Bericht 6: Bei einer Sitzmeditation hatte ich zeitweilig gar keine Gedanken. Im Nachhinein betrachtet war sogar das Mantra nicht da gewesen. Ich fragte mich, ob der Zustand des Sterbens sich so anfühlen könnte.
Es sind in den sieben Tagen viel mehr Erfahrungen berichtet worden, die ich hier nicht alle anführen kann. Man sieht, dass Teilnehmer, die schon mehrmals dabei waren, diesmal auch neue Erfahrungen machen konnten. Die Meditation ist wohl ein Prozess, wobei man immer wieder neue Erkenntnisse erlangen könnte, unter der Voraussetzung, dass man nicht aufhört zu üben.

Meditationsretreat 2019 – Tempel Honghang Wien
Kategorien:Erfahrungsberichte
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