Herz Sutra – Wer war der Bodhisattva Avalokiteshvara
——Begleitlektüre zum Drei Schätze Retreat am 05.11.2020
Der Bodhisattva, um den es hier geht, wird im Sanskrit Text Avalokitesvhara genannt: „der Herr, der mit mitfühlenden Augen die Welt betrachtet“, das ist auf Chinesisch Guan Yin (观音). Er steht für das Mitgefühl (Sanskrit: Karuna). Im chinesischen Herz Sutra Text, den wir hier behandeln, ist sein Name aber „der sich selbst kontemplativ betrachtende Bodhisattva“. Das klingt für mich eher nach dem Aspekt der Weisheit. Warum diese Abweichung? Nun, zum einen gehören Mitgefühl und Weisheit auf dem Bodhisattvaweg untrennbar zusammen. Sie bedingen einander sogar: Das Erfahren der Leere (Die Definition von Prajna, das Erkennen der Dinge, wie sie wirklich sind) lässt unweigerlich Mitgefühl aufkommen. Zum anderen handelt unser Text ausdrücklich von der Vervollkommnung der Weisheit (Prajna Paramita). So erscheint es folgerichtig, wenn die Hauptperson eine Bezeichnung trägt, die auf den Weisheitsaspekt Bezug nimmt. Ein Bodhisattva strebt das höchste vollständige Erwachen zur Erlösung aller Lebewesen an. Sein Mitgefühl und seine Weisheit entspringen der gleichen Quelle des natürlichen Urwesens. Mitgefühl ohne Weisheit führt zu verblendeten ja womöglich kontraproduktiven Hilfeleistungen, Weisheit ohne Mitgefühl wiederum entfaltet wenig Motivation zur Fremdhilfe.
Die folgenden Zitate aus buddhistischen Sutren und Legenden bringt uns die Gestalt Avalokiteshvara näher:
Wie der Bodhisattva Avalokiteshvara zu seinem Namen kam, beschreibt eine Stelle im Lotos Sutra. Ein Schüler stellt die Frage an Buddha:
„In aller Welt verehrter! Aus welchem Grund hat der Bodhisattva Avalokiteshvara den Namen „Avalokiteshvara“, das heißt der die Rufe der Welt beachtet?“
Der Buddha antwortet darauf:
„ […] Wenn es (eine) unermessliche (Anzahl an) […] Lebewesen gibt, die verschiedene Leiden und Schmerzen ertragen, und wenn diese von dem Bodhisattva Avalokiteshvara hören und mit ganzem Herzen dessen Namen rufen, so achtet der Bodhisattva sofort auf ihre Rufe und Stimmen und bewirkt, dass sie alle befreit und gerettet werden. […] Das ist der Grund, warum man ihn „Avalokiteshvara“, d.h. „Der die Rufe der Welt beachtet“, nennt.“ [i]
Das 2. Kapitel des Surangama Sutra „Geistige Erlebnisse der höchsten Bodhisattvas“ berichtet vom Übungsweg und Werdegang des Bodhisattvas:
Bei einer Versammlung forderte Buddha seine Schüler auf, ihren jeweiligen Weg zum Erwachen zu beschreiben. Nachdem 24 große Arhats und Bodhisattvas ihren Weg geschildert hatten, erhob sich Bodhisattva Avalokiteshvara von seinem Sitz und beschrieb seinen Weg:
„[…] Der Buddha lehrte mich, damit zu beginnen, zu hören, nachzudenken und mich damit zu kultivieren. Durch diese Übung erlangte ich Samadhi (Versenkung). In der ersten Phase des Hörens schwand mir fließend das Gehörte. Was hereinkommt wird still. Die duale Gestalt von Aktivität oder Ruhe erhob sich nicht mehr. Mich auf diese Art allmählich steigernd, kam alles Gehörte zur Erlöschung. Sich bei allem Gehörten nicht anhaften: Alles was ich erkenne, erkenne ich als leer. Das Erwachen über die Leerheit vervollkommnete sich, auch [der Sinn] der Leerheit gelangte zur Erlöschung. Das Entstehen und Vergehen waren erloschen, die stille Erlöschung manifestierte sich. Auf Anhieb erlangte ich den Durchbruch, bin trotz dem weltlichen Sein im Außerweltlichen. (Die Welten) aller zehn Himmelsrichtungen wurden vollkommen und erleuchtet. Ich erlangte zwei Vorzüglichkeiten. Die erste: Ich vereinte mich mit den wundersamen Herzen der Buddhas der (Welten der) zehn Himmelsrichtungen und verfügte über die gleiche Kraft der Güte wie der Buddha, der Thatagata. Die zweite: Ich vereinte mich mit allen Lebewesen der sechs Daseinsbereiche der (Welten der) zehn Himmelsrichtungen und teilte das gleiche Leiden und Sehnen mit ihnen. [ii]
Dies ist eine durchaus sehr detaillierte Beschreibung von der Meditation über das Hören. Eine andere Legende erzählt davon, dass Avalokiteshvara das Erwachen über das Lauschen der Meereswellen erlangte. Er gilt somit als Vorbild für den Übungsweg über den Gehörsinn. Im Sutra wird dann noch beschrieben, dass er dadurch die Fähigkeit erlangte, die Bedürfnisse aller Wesen begreifen und ihnen geschickt zum Erwachen helfen zu können.
In Ostasien herrschen zahlreiche Legenden und Mythen über den Bodhisattva Avalokiteshvara. Eine sehr bekannte Legende erzählt uns, dass Avalokiteshvara einen Eid leistete, im Streben zur Befreiung aller Wesen niemals nachzulassen, andernfalls würde sein Kopf in tausend Scheiben zerfallen. Als ihm bei der Betrachtung aller Daseinsbereiche die unermessliche Anzahl der leidenden Wesen bewusst wurde, zweifelte er für einen Moment an der Durchführbarkeit seines Gelübdes. Als sein Kopf stark zu schmerzen begann, erschien Buddha Amithaba aus dem innewohnenden Urwesen und versicherte ihm den Beistand aller Buddhas. Seitdem wird der Bodhisattva mit 1000 Armen und Augen dargestellt, was die mitfühlende Fähigkeit aller 1000 Buddhas, die nach der Überlieferung in dem jetzigen Kalpa (buddhistisch-mythologisches Zeitalter) erscheinen werden. Auch Im tibetischen Buddhismus gilt Avalokiteshvara als die Verkörperung des Mitgefühls, weshalb viele Meister, darunter insbesondere der Dalai Lama als seine Verkörperungen angesehen werden.
Kumarajiva übersetzte im Jahre 406 den Namen des Bodhisattvas Avalokiteshva aus dem Sanskrit in den chinesischen Namen 观世音 guan shi yin. Der gebräuchliche Name seit der Tang Dynastie (7. Jh.) ist 观音 guan yin. Guan Yin ist weiblich. Den Chinesen erschien Mitgefühl wohl besser durch eine Frau verkörpert zu werden. Die chinesische Legende erzählt von Guan Yin, die als Prinzessin auf ihre Stellung und ihren Reichtum verzichtete und schließlich durch aufopferungsvolle Praxis das Erwachen erlangte. Als transzendiertes Wesen wird sie lokal mit der Insel Putuo im südchinesischen Meer in Verbindung gebracht, von wo aus sie Menschen in der Not hilft, die sich durch Anrufung ihres Namen an sie wenden. Ihr ganzer chinesischer Name 观世音菩萨 guanshiyin pusa bedeutet „die Bodhisattva, welche die Nöte der Welt hört“.
Neben den vielen Erscheinungen, wodurch Avalokiteshvara die beliebteste Göttin in Ostasien wurde, – ähnlich wie Mutter Maria für die Katholiken -, wurde sie vor allem durch das Herz Sutra bekannt. Auch wenn viele Laien diesen Text nur des Segens wegen rezitieren, beinhaltet das Sutra die Essenz der buddhistischen Lehre. Der Übungsweg, wodurch er diese höchste Weisheit erlangt hat, heißt „die kontemplative Selbstbetrachtung“. Mit dieser Bezeichnung beginnt auch der Text des Herz Sutras: „Der sich kontemplativ selbst betrachtende Bodhisattva erlangte einmal tiefe Vervollkommnung der Weisheit.“ Manche Übersetzer übersetzen den Teil „Der sich kontemplativ selbst betrachtende Bodhisattva“ direkt als „der Bodhisattva Avalokiteshvara“. Beide Varianten sind möglich, sie bringen zwei unterschiedliche Bedeutungen des Namens zum Ausdruck. Die Erstere weist zugleich auf den Übungsweg hin, wobei der Letztere nur den Namen des Bodhisattvas bringt. Für uns ist das Verständnis über den Übungsweg von wichtiger Bedeutung, daher werden wir uns im nächsten Beitrag mit der Bedeutung der „kontemplativen Selbstbetrachtung“ befassen, um uns ein Bild machen zu können, wie der Bodhisattva zu seinen tiefen Erkenntnissen im Herz Sutra gekommen ist.
[i] Lotos Sutra, Kapitel XXV: Das universale Tor des Bodhisattva Avalokiteshvara, das große Erleuchtungsbuch des Buddhismus, vollständige Übersetzung von Margareta von Borsig, Neuausgabe 2013, s. 359, Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau, 2003
[ii] übersetzt von der Redaktion aus dem Chinesischen:尔时。观世音菩萨。即从座起。顶礼佛足。而白佛言。世尊。忆念我昔。无数恒河沙劫。于时有佛。出现于世。名观世音。我于彼佛。发菩提心。彼佛教我从闻思修。入三摩地。初于闻中。入流亡所。所入既寂。动静二相。了然不生。如是渐增。闻所闻尽。尽闻不住。觉所觉空。空觉极圆。空所空灭。生灭既灭。寂灭现前。忽然超越世出世间。十方圆明。获二殊胜。一者。上合十方诸佛本妙觉心。与佛如来同一慈力。二者。下合十方一切六道众生。与诸众生。同一悲仰。
–> Die kontemplative Selbstbetrachtung
Kategorien:Buddhismus, Herzsutra 心经
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