„Er wagt es, den Bart des Tigers zu zupfen!“ ——Das Koan zum Linji Yixuan

——Beitragsreihe: Die Koans zur Geschichte des Zen-Buddhismus

Der Zen- oder Chan-Buddhismus florierte ab der Mitte der chinesischen Tang-Dynastie, etwa ab dem 8. Jahrhundert, mit dem Aufkommen zahlreicher einflussreicher Meister, die zumeist auch in der Gunst des Kaiserhauses standen. Diese politische Förderung kam jedoch in den Jahren 840-846 zu einem abrupten Ende. Die massive Expansion von buddhistischen Klöstern generell (nicht nur der zen- oder chan-buddhistischen) führte dazu, dass einerseits die Klöster immer mehr Grundbesitz und Vermögen anhäuften, andererseits immer mehr Menschen sich als Mönche und Nonnen ordinieren ließen, um Steuerzahlungen oder den Militärdienst zu umgehen. Sie lebten von Almosen und erbrachten keine wirtschaftlichen Leistungen. Diese damit verbundenen Probleme waren dem neu auf den Thron gestiegenen Kaiser Li Yan ein Dorn im Auge. Er ließ massenweise Klöster zerstören, beschlagnahmte deren Vermögen und zwang die Mönche und Nonnen, ihren weltlichen Status wieder anzunehmen. Zahlreiche Schriften wurden dabei vernichtet oder gingen verloren. Viele Buddhastatuen wurden zerstört, vor allem jene aus Bronze wurden verschmolzen und zu Werkzeugen oder anderen Gegenständen verarbeitet.

Dabei kamen die wahren Praktizierenden und Meister auch in Mitleidenschaft, darunter war auch Huangbo Xiyun, „das seltene Glück vom Korkbaumberg“, von dem wir im letzten Beitrag berichtet haben. Er musste seinen Sitz am Korkbaumberg verlassen und sich anderweitig in Sicherheit bringen. Nicht umsonst hieß er „das seltene Glück“: Er fand Schutz beim hohen Beamten Peixiu, der auch praktizierender Buddhist war, und überstand die Jahre der politischen Unterdrückung ohne Schwierigkeiten. Bald aber verstarb Kaiser Li Yan, der den Titel „Wuzong“, was „der kriegerische Ahne“ bedeutet, gemäß der konfuzianischen Tradition zur Charakterisierung des Lebens eines Kaisers erhalten hatte. Sein Thronfolger war ein Verehrer des Buddhismus und versuchte, die vielen Zerstörungen wieder gutzumachen. Allerdings konnten viele Bau- und Kunstwerke nicht mehr wiederhergestellt werden. Zahlreiche Schriften sind nicht mehr auffindbar. Manche buddhistische Schulen, die stark von den Schriften abhängig waren, gingen mit der Zeit unter. Der Zen- und Chan-Buddhismus konnte jedoch dank seiner Unabhängigkeit von den Schriften wieder aufblühen. Aus der Schule vom Korkbaumberg trat dann jener Meister hervor, der die nach ihm benannten Linji-Schule  (Rinzai-Shu), gründete. Dieser war der Linji Yixuan (?-866), wörtlich „Der Tiefsinnige an der Fähre“. Nennen wir ihn einfach „der Tiefsinnige“.

Der Tiefsinnige wünschte sich schon in seinen jungen Jahren, den Mönchsweg zu gehen. Als er dann zum Mönch ordiniert wurde, begehrte er die Lehre des Zen oder Chan. Daher kam er zum Korkbaumberg. Er blieb dort und verfolgte gehorsam den täglichen Ablauf. Es heißt, dass sein Verhalten „rein und eins“ war.

Eines Tages fragte ihn der Älteste der Schule: „Wie lange bist du schon hier?“

Der Tiefsinnige antwortete: „Drei Jahre.“

„Hast du schon mal den Lehrer etwas gefragt?“

„Nein, habe ich nicht. Ich wüsste nicht, was ich fragen soll.“

„Warum fragst du nicht einfach, was der wirkliche Sinn der Buddhalehre ist?“

Der Tiefsinnige folgte dieser Anweisung und ging zum Korkbaumberg. Kaum hatte er die Frage fertiggestellt, schlug der Korkbaumberg ihn mit einem Stock. Der Tiefsinnige zog sich sofort zurück.

„Wie war es mit der Frage?“ fragte ihn der Älteste beim nächsten Treffen.

„Kaum habe ich die Frage fertiggestellt, hat der Meister mich geschlagen. Ich verstehe es nicht.“

„Dann sollst du aber nochmals hingehen und fragen.“

Der Tiefsinnige ging wieder hin und wurde wieder geschlagen.

Er ging insgesamt drei Mal hin und wurde drei Mal geschlagen.

Der Tiefsinnige sprach zum Ältesten: „Ich folgte Ihrem Ratschlag, den Lehrer zu fragen, und bekam Schläge. Meine Blockade ist leider zu stark, sodass ich den tiefen Sinn nicht begreife. Ich werde mich daher heute verabschieden.“

„Wenn du uns verlassen möchtest, dann sollst du dich zumindest vom Lehrer verabschieden.“

Der Tiefsinnige verbeugte sich und machte sich auf den Weg zum Korkbaumberg.

Nachdem er seinen Abschied ausgesprochen hatte, sagte der Korkbaumberg: „Gehe nicht woanders hin, gehe zum Ort Gao-An, und suche den Mönch Dayu auf. Er wird es dir erklären.“

Dayu, wörtlich „der große Törichte“, stammt aus der gleichen Schullinie wie der Korkbaumberg. Der Tiefsinnige folgte der Anweisung seines Lehrers und suchte den Törichten auf.

„Woher kommst du?“ fragte der Törichte.

„Vom Korkbaumberg.“

„Was hat der Korkbaumberg gesagt?“

„Dreimal habe ich nach dem wirklichen Sinn der Buddhalehre gefragt, dreimal wurde ich geschlagen. Ich weiß nicht, ob ich nicht etwas falsch gemacht habe.“

„Der Korkbaumberg bemühte sich ja richtig aus mütterlicher Fürsorge, dich vom Zweifel zu befreien. Und du kommst hierher und fragst, ob du nicht etwas falsch gemacht hast?!“

In dem Moment erlangte der Tiefsinnige großes Erwachen und sagte: „Eigentlich hat der Korkbaumberg nicht mehr zu bieten.“

Der Törichte packte ihn: „Du mieser Bettnässer, vorhin fragst du, ob du nicht etwas falsch gemacht hast, jetzt sagst du, dass der Korkbaumberg nicht mehr zu bieten hat. Was hast du erkannt? Sag es mir, sofort! sofort!“

Der Tiefsinnige rammte dreimal mit der Faust in die Rippen des Törichten. Der Törichte ließ ihn los und sagte: „Der Korkbaumberg ist dein Lehrer. Es hat mit mir nichts zu tun.“

Der Tiefsinnige verabschiedete sich und kehrte zum Korkbaumberg zurück.

Korkbaumberg sagte sofort: „Dieser Kerl kommt und geht ständig. Hat das endlich ein Ende?“

„Nur weil jemand sich mit mütterlicher Fürsorge bemüht hat, stelle ich mich nach Erledigung der Angelegenheit wieder zur Verfügung“, antwortete der Tiefsinnige.

„Wo warst du?“

„Gemäß Ihrer Anweisung habe ich den Törichten besucht.“

„Was hat der Törichte gesagt?“

Der Tiefsinnige erzählte ihm den Verlauf.

„Der Törichte ist wirklich geschwätzig. Beim nächsten Treffen werde ich ihn ordentlich verprügeln.“

„Warum beim nächsten Mal? Warum nicht gleich jetzt!“

Daraufhin verpasste der Tiefsinnige Korkbaumberg eine Ohrfeige.

„Dieser verrückte Kerl! Er wagt es, den Bart des Tigers zu zupfen!“, beklagte sich Korkbaumberg.

Der Tiefsinnige gab einen Schrei von sich.

Korkbaumberg rief seinem Diener zu: „Führe diesen Verrückten in den Dienst ein!“[1]

Geschrei und Schläge als Mittel zum plötzlichen Erwachen kamen zu jener Zeit in den zen- oder chan-buddhistischen Schulen häufig vor. Sie sollten nicht als Strafe für Verfehlungen oder Mittel zur Machtdemonstration missverstanden werden. Erwachte Lehrer setzen sie gezielt zu rechten Momenten ein, um einem Schüler zu helfen, sich von seinen geistigen Blockaden zu befreien. Aber nicht alle können diese Mittel effektiv einsetzen. In der heutigen Zeit setzt kaum noch ein Lehrer solche Mittel ein. Charakteristisch für die Hochblütezeit des Zen- oder Chan-Buddhismus zur damaligen Zeit in China ist es eben, dass es zahlreiche Lehrer gab, die es verstehen, diese Mittel geschickt und effektiv einzusetzen. Der Tiefsinnige ist einer der bekanntesten davon; vor allem wurde er berühmt für sein Geschrei. Kurz vor seinem Tod im Jahr 866 fragte er einen seiner Nachfolger, wie er denn lehren werde. Der Schüler hat einfach nur einen lauten Schrei von sich gegeben.  

Der Beiname „An der Fähre“ wurde dem Tiefsinnigen vom Ort Linji verliehen, was „an der Fähre“ bedeutet, wo er als Lehrer seine Residenz hatte. Seine Linji-Schule entwickelte sich im Laufe der Zeit zur am weitesteten verbreiteten buddhistischen Schule in China und in Ostasien. In Japan ist die Schule unter dem Namen Rinzai-shu bekannt. Dort gibt es gegenwärtig über 6000 Klöster der Rinzai-Schule. Zusammen mit der Soto-shu sind sie die beiden weltweit einflussreichsten buddhistischen Schulen. Allerdings praktizieren sie nicht mehr das Schreien wie zur Zeit ihres Gründers im 9. Jahrhundert in China.

Zunächst widmen wir uns der Guiyang-Schule, die von Guishan Lingyou (771-853), wörtlich „der Gesegnete vom Berg am Gui-Fluss“ gegründet wurde. Diese ist älteste der fünf Schulen des Zen oder Chan. Der Gesegnete war ein Schüler von Baizhang Huaihai, dem „Großmütigen vom Erhabenen Felsen“, der zugleich Lehrer von Huangbo Xiyun, dem „Seltenen Glück vom Korkbaumberg“ war. Im nächsten Beitrag geht es daher um das Koan zwischen dem Erhabenen Felsen und dem Gesegneten.

Organigramm zur Genealogie der Gründer der fünf Schulen


<<<„Hast du den Tiger gesehen?“ – Das Koan zum Huangbo Xiyun

Das Koan zum Guishan Lingyou>>>


[1] 曹州南華邢氏子。幼負出塵之志。及落髮進具。便慕禪宗。初在黃檗會中。行業純一。時睦州為第一座。乃問。上座在此多少時。師曰三年。州曰。曾參問否。師曰。不曾參問。不知問個甚麼。州曰。何不問堂頭和尚如何是佛法的的大意。師便去問。聲未絕。檗便打。師下來。州曰。問話作麼生。師曰。某甲問聲未絕。和尚便打。某甲不會。州曰。但更去問。師又問。檗又打。如是三度問。三度被打。師白州曰。早承激勸問法。累蒙和尚賜棒。自恨障緣不領深旨。今且辭去。州曰。汝若去。須辭和尚了去。師禮拜退。州先到黃檗處曰。問話上座。雖是後生。却甚奇特。若來辭。方便接伊。[A1]已後為一株大樹。覆蔭天下人去在。師來日辭黃檗。檗曰。不須他去。祇往高安灘頭。參大愚。必為汝說。師到大愚。愚曰。甚處來。師曰。黃檗來。愚曰。黃檗有何言句。師曰。某甲三度問佛法的的大意。三度被打。不知某甲有過無過。愚曰。黃檗與麼老婆心切。為汝得徹困。更來這裏問有過無過。師於言下大悟。乃曰。元來黃檗佛法無多子。愚搊住曰。這尿牀鬼子。適來道有過無過。如今却道黃檗佛法無多子。你見個甚麼道理。速道速道。師於大愚肋下築三拳。愚拓開曰。汝師黃檗。非干我事。師辭大愚。却回黃檗。檗見便問。這漢來來去去。有甚了期。師曰。祇為老婆心切。便人事了侍立。檗問。甚處去來。師曰。昨蒙和尚慈旨。令參大愚去來。檗曰。大愚有何言句。師舉前話。檗曰。大愚老漢饒舌。待來痛與一頓。師曰。說甚待來。即今便打。隨後便掌。檗曰。這風顛漢。來這裏捋虎鬚。師便喝。檗喚侍者曰。引這風顛漢參堂去。——指月錄卷之十四 六祖下第五世 鎮州臨濟義玄禪師



Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Koan/Gong-An

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