Seneca über Tugend und Weisheit

 

Wie sich die Grundsätze des Weges der Einheit in anderen Zeiten und Kulturen wiederfinden lassen.

 

„Einige von den unseren meinten gleichwohl, obschon die Philosophie die Bemühung um die Tugend ist und diese erstrebt wird, jene aber danach strebt, dass man die beiden nicht trennen kann; denn weder gibt es eine Philosophie ohne Tugend noch ohne Philosophie eine Tugend. Philosophie ist die Bemühung um die Tugend, doch eben mit Hilfe der Tugend; freilich kann weder die Tugend ohne Bemühung um sie bestehen noch die Bemühung um Tugend ohne diese selbst. Denn nicht befindet sich, wie bei solchen, die von einem entfernten Ort aus etwas zu treffen versuchen, hier der Zielende, dort das Ziel; und im Gegensatz beispielsweise zu den Straßen, die zu den Städten führen und die ausserhalb der Städte sind, befinden sich die Wege zur Tugend nicht ausserhalb dieser selbst: zur Tugend gelangt man gerade durch sie, miteinander verbunden sind Philosophie und Tugend.“

Seneca, Briefe an Lucilius –  89. Brief, Abschnitt 8[1]

 

Lucius Annaeus Seneca wurde vor 2000 Jahren im heutigen Spanien, in Cordoba, geboren. Er machte eine beeindruckende Karriere in der Oberschicht des römischen Reichs und wurde zu einem der reichsten Männer seiner Zeit. Politische Ränke und Intrigen im Umfeld der Kaiser Caligula, Claudius und Nero (dessen Privatlehrer er war) brachten ihm erst eine vorübergehende Verbannung nach Korsika ein, später die latente Gefahr einer Verhaftung und Hinrichtung. Schließlich veranlasste ihn dies, alle Ämter zu quittieren, den Rückzug aufs Land und ins Privatleben zu suchen.

Damals entstanden auch die „Briefe an Lucilius“, woraus der kurze Abschnitt hier stammt. Seneca und Lucilius waren Stoiker, mit den „einigen von den unseren“ sind also stoische Philosophen gemeint. Die Stoa als Lebensphilosophie und Lebenseinstellung weist viele Bezüge und Parallelen zu Buddhismus und Konfuzianismus auf und findet heute wieder vermehrt Anhänger.

Wichtig für das Verständnis des Textes ist es, das Wort Philosophie im antiken Sinne zu verstehen:

 – „Philos“ ist „Neigung, Zuneigung, Vorliebe“

– „Sophia“ ist „die Weisheit“: von der Bedeutung „Lebensklugheit, Erfahrung“ über „etwas durchschaut, etwas erkannt zu haben“ bis hinauf zum selben Sinn wie die Prajna im Buddhismus.

In der Antike waren die verschiedenen Philosophenschulen – die Neuplatoniker, Epikuräer, Stoiker, Peripatetiker usw. Gemeinschaften zur Pflege der rechten Lebenspraxis, und dies ist ganz ähnlich der Funktion des Weges der Einheit und vergleichbarer Gemeinschaften (etwa tibetisch buddhistischer) in der heutigen Gesellschaft. Und da der Weg der Einheit typisch synkretistisch ist, sind passende Zitate aus der der europäischen Geistesgeschichte immer eine willkommene Ergänzung,  um Aspekte der Praxis zu beleuchten. Hier in unserer Briefstelle geht es um Tugend (um Verhaltensweisen) und Weisheit (Einsicht in Daseinszusammenhänge) –  indisch: Sila und Prajna. Der Text erinnert auch an Wei Wu Wei 为无为, das Tun ohne zu Tun.


[i] Aus dem Lateinischen von Heinz Gunermann, Franz Loretto und Rainer Rauthe, Reclam Verlag



Kategorien:Philosophie, Stoa/Stoizismus

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  1. Du hast eine interessante Verbindung zwischen der Stoa, dem Buddhismus, Konfuzianismus und Daoismus hergestellt. Man sieht, dass die Begriffe unterschiedlicher Kulturen in ihrer Essenz doch die gleiche Bedeutung haben können. Die Gleichsetzung von stoischer Tugend und Weisheit mit buddhistischer Sila und Prajna und daoistischer Wei-Wu-Wei finde ich großartig.

  2. Das daoistische Wei-Wu-Wei hat die geistige Klarheit und Ruhe (qing jing 清静) als Grundlage, was die stabile Entfaltung von Tugend und Weisheit erst ermöglicht. Im Buddhismus ist es das Samadhi, das gemeinsam mit Sila und Prajna die Einheit bildet. Interessant wäre daher die Fragestellung, inwieweit man die stoische Ruhe, die Ataraxie, mit dem Qing-Jing und dem Samadhi vergleichen kann.

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