„Bist du ein Novize mit Herr oder ohne Herr?“ – Die Koans zum Yangshan Huiji

——Beitragsreihe: Die Koans zur Geschichte des Zen-Buddhismus

In diesem Beitrag widmen wir uns dem zweiten Gründer der Guiyang-Schule, dem Yangshan Huiji (807-883), wörtlich „Der stille Weise vom Berg der Ehrfurcht“. Wir nennen ihn einfach „der Stille“.

Der Stille war Sohn der Familie Ye in der Stadt Shaozhou (in der heutigen Provinz Guangdong im Südchina). Er lebte seit seinem 9. Lebensjahr (816) im Kloster und wollte Mönch werden. Seine Eltern holten ihn mit 14 Jahren (830) wieder ab und wollten eine Hochzeit für ihn arrangieren. Der Stille fügte sich jedoch nicht. Um seine Eltern von seinem festen Willen, Mönch zu werden, zu überzeugen, schnitt er sich zwei Finger ab. Er kniete sich vor seinen Eltern hin und schwor, die rechte Lehre zu verwirklichen, um die Mühen seiner Eltern zu vergelten. Schließlich willigten die Eltern ein. Nach der Ordination suchte er zuerst den Zen- oder Chan-Meister Danyuan auf, wörtlich „der in der Quelle Versunkene“. Er war ein Schüler von Nanyang Huizhong, ‚dem weisen Loyalen von Nanyang“, einem der einflussreichsten Schüler des sechsten Ahnlehrers Huineng. Dieser vermittelte dem jungen Stillen eine geheime Überlieferung:

Danyuan sagte zum Stillen: „Mein Lehrer hat einst vom sechsten Ahnlehrer 97 ‚runde Formen‘ übermittelt bekommen, welche er mir weitergegeben hat. Er sagte zu mir: ‚30 Jahre nach meinem Ableben, wird aus dem Süden ein Novize kommen und unsere Lehre groß verbreiten. Gib ihm diese weiter, sodass die Überlieferung zu keinem Abbruch kommt.‘ Heute gebe ich sie dir, bewahre sie gut auf.“

Er gab dem Jungen ein Buch. Der Stille las es einmal durch und verbrannte es.

Eines Tages fragte Danyuan nach dem Buch: „Diese Formen sind wertvolle Überlieferungen der Vorfahren, bewahre sie gut auf.“

Der Stille sagte: „Ich habe es verbrannt, nachdem ich es gelesen habe.“

„Diese Lehre kann außer den Ahnlehrern und den großen Weisen sonst niemand begreifen und lehren. Warum hast du es verbrannt?“, fragte Danyuan.

„Ich habe den Sinn beim ersten Durchlesen schon begriffen. Für die Anwendung brauche ich mich nicht an das Buch zu binden.“, antwortete der Stille.

„Auch wenn es so ist, du hast es zwar erreicht. Aber die Nachkommenden können daran glauben, es jedoch nicht mehr zu sehen bekommen.“, beklagte sich Danyuan weiter.

„Wenn der Meister es haben möchte, wird es nicht schwierig sein, es wieder aufzuzeichnen.“, sagte der Stille mit Gewissheit. Daraufhin fertigte der Stille eine neue Version an und übergab es Danyuan. Danyuan las das neu gefertigte Buch und bestätigte, dass es dem alten inhaltlich vollständig gleich war. [1]

Das Koan soll darstellen, wie begabt der junge Stille war und dass er die Lehre sich bereits verinnerlicht hatte. Es wurde nicht erklärt, was mit den 97 ‚runden Formen‘ gemeint war. Der runde Kreis ist jedoch allgemein als das Zeichen des Zen- oder Chan-Buddhismus bekannt. Deshalb wird die zen- und chan-buddhistische Lehre als die „Schule der runden Form“ bezeichnet. Warum aber die Zahl 97 gewählt wurde, bleibt ein Rätsel. Manche Stellen sprechen auch von 100 runden Formen. Was aber in diesem Buch stand, wurde ebenfalls nicht erwähnt. Das, was anschließend passierte, soll jedoch etwas davon kundgeben:

Danyuan nahm seinen Sitz in der Lehrhalle ein. Unter den Schülern stand der Stille auf. Er machte eine runde Form und reichte sie mit seiner Hand dar. Dann stand er mit gekreuzten Händen da. Danyuan legte seine Hände zur Faustform zusammen und zeigte sie ihm. Der Stille ging drei Schritte weiter und verbeugte sich wie eine Dame. Danyuan nickte. Der Stille verbeugte sich erneut. [2]

Diese rätselhafte Beschreibung soll mit dem Inhalt des Buches zu tun haben. Sie blieb jedoch ohne Erklärung. Dann wurde noch von einem kurzen Dialog zwischen den beiden berichtet:

Der Stille wusch gerade seine Wäsche.

Danyuan fragte ihn: „Was machst du in diesem Moment?“

Der Stille antwortete: „Wohin schaue ich in diesem Moment?“[3]

Eine Frage als Antwort auf eine Frage. Beide wussten, wovon sie sprachen. Der Stille hatte beim Danyuan bereits seinen Durchbruch erlangt. Die Reife und Vervollkommnung erhielt er dann bei Guishan Lingyou, dem „Gesegneten vom Gui-Flussberg“, dem ersten Gründer der Guiyang-Schule. Beim ersten Treffen entwickelte sich das folgende Gespräch:

Der Gesegnete fragte: „Bist du ein Novize mit Herr oder ohne Herr?“

Der Stille antwortete: „Mit Herr.“

Der Gesegnete fragte weiter: „Wo ist dein Herr?“

Der Stille ging vom Westen des Raumes zum Osten und blieb dort stehen. Der Gesegnete war begeistert.

Der Stille fragte zurück: „Wie ist der Verweilungsort des wahren Buddha?“

Der Gesegnete antwortete: „Besinne die Wundersamkeit des Nicht-Denkens. Umgekehrt erwäge die unendlichen Flammen des Geistes. Am Ende des Denkens kehrt es zur Quelle zurück. Wesen und Form verweilen beständig. Objekte und Prinzip sind eins. Der wahre Buddha ist die Soheit.“

Der Stille erwachte sofort bei diesen Worten.[4]

Der Stille blieb seitdem 15 Jahre lang beim Gesegneten und wurde sein Kammerdiener. Zusammen prägten sie die Art des Lehrens in der Guiyang-Schule. In ihrer Hochblüte hatte die Schule laut Quellenangaben etwa 1500 Schüler. Zu jener Zeit, in der Mitte des 9. Jahrhunderts, befand sich die Tang-Dynastie in der Phase des Untergangs. Das einst mächtige Kaiserreich war bereits stark geschwächt und von ständigen Unruhen geprägt. Die kulturelle Vielfalt, die einst florierte, litt ebenfalls unter diesen Entwicklungen. Die Hochblüte des chinesischen Buddhismus endete abrupt im Jahr 841 durch eine politische Unterdrückung unter Kaiser Li Yan, – später als Wuzong (der kriegerische Ahne) bekannt -, der ein Verehrer des Daoismus war und alle anderen Religionen im Land verbot. Mönche und Nonnen wurden aus ihren Klöstern vertrieben und durften ihre religiöse Praxis nicht mehr ausüben. Auch die zen- oder chan-buddhistischen Meister waren Opfer dieser Maßnahmen.

Der Gesegnete und der Stille mussten ihr Kloster verlassen und sich als weltlich gekleidete Konfuzianer unter dem einfachen Volk versteckt halten. Ihre Wege trennten sich schließlich. Der Stille begab sich auf den menschenleeren Gipfel des Yangshan-Berges, wörtlich „der Berg der Ehrfurcht“, in der Provinz Jiangxi, und lebte dort zunächst als Einsiedler. Im Jahr 846 starb der Kaiser Li Yan. Sein Thronfolger hob das Verbot des Buddhismus auf. Der Gesegnete kehrte zum Kloster am Gui-Flussberg zurück. Der Stille baute auf dem Berg der Ehrfurcht seine Schule auf und erweiterte die Guiyang-Schule.

Damit haben wir die Koans der Gründer der beiden Schulen Linji (Rinzai) und Guiyang, die beide von der Linie des Nanyue Huairang, „der Nachsichtige vom Südberg“, und Mazu Daoyi, „der Ahnlehrer Ma der Dao-Einheit“, stammen. Als nächstes werden wir die drei weiteren Schulen betrachten, die von der Linie eines anderen Schülers des 6. Ahnlehrers, Qingyuan Xingsi, wörtlich „der praktizierende Denker vom blauen Plateau“, abstammen. Um diesen ‚praktizierenden Denker‘ geht es im nächsten Beitrag.


Organigramm zur Genealogie der Gründer der fünf Schulen


<<<„Wie ein Wurm, der auf Holz beißt“ – Die Koans zum Guishan Lingyou

Das Koan zum Qingyuan Xingsi>>>


[1] 韶州懷化葉氏子。年九歲。於廣州和安寺。投通禪師(即不语通,得法百丈)出家。十四歲。父母取歸。欲與婚媾。師不從。遂斷手二指。跪致父母前。誓求正法以答劬勞。父母乃許。再詣通處而得披剃。未登具。即遊方。初謁躭源。已悟玄旨。後參溈山。遂升堂奧。躭源謂師曰。國師當時傳得六代祖師圓相。共九十七個。授與老僧。乃曰。吾滅後三十年。南方有一沙彌到來。大興此教。次第傳授無令斷絕。我今付汝。汝當奉持。遂將其本過與師。師接得一覧。便將火燒却。躭源一日問。前來諸相甚宜秘惜。師曰。當時看了便燒却也。源曰。吾此法門無人能會。惟先師及諸祖師諸大聖人。方可委悉。子何得焚之。師曰。慧寂一覽。已知其意。但用得不可執本也。源曰。然雖如此。於子即得。後人信之不及。師曰。和尚若要。重錄不難。即重集一本呈上。更無遺失。源曰然。韶州懷化葉氏子。年九歲。於廣州和安寺。投通禪師(即不语通,得法百丈)出家。十四歲。父母取歸。欲與婚媾。師不從。遂斷手二指。跪致父母前。誓求正法以答劬勞。父母乃許。再詣通處而得披剃。未登具。即遊方。初謁躭源。已悟玄旨。後參溈山。遂升堂奧。——《指月錄卷之十二 六祖下第五世 袁州仰山慧寂通智禪師》

[2] 躭源上堂。師出眾作此○相以手拓呈了。却叉手立。源以兩手相交作拳示之。師進前三步作女人拜。源點頭。師便禮拜。——《指月錄卷之十二 六祖下第五世 袁州仰山慧寂通智禪師》

[3] 師浣衲次。躭源曰。正恁麼時作麼生。師曰。正恁麼時。向甚麼處見。——《指月錄卷之十二 六祖下第五世 袁州仰山慧寂通智禪師》

[4] 後參溈山。溈問。汝是有主沙彌無主沙彌。師曰。有主。曰主在甚麼處。師從西過東立。溈異之。師問。如何是真佛住處。溈曰。以思無思之妙。反思靈𦦨之無窮。思盡還源。性相常住。事理不二。真佛如如。師於言下頓悟。自此執侍。前後盤桓十五載。——《指月錄卷之十二 六祖下第五世 袁州仰山慧寂通智禪師》



Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Koan/Gong-An

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