Herz Sutra – „Der Bodhisattva, durch vollkommene Weisheit ohne Hindernis im Geist“ – Teil 1
——Begleitlektüre zum Drei Schätze Retreat am 12.05.2021
Die ganze Zeit spricht das Herz Sutra, wie wir ja wiederholt festgestellt haben, aus der Perspektive eines Erwachten. Es behandelt die Dinge, wie sie sich mit vollkommener Weisheit betrachtet darstellen. Hier kommt der Sprecher selbst wieder einmal ins Spiel, Avalokiteshvara beschreibt seinen Zustand in der dritten Person. Dies deshalb, weil es ja eigentlich nicht um ihn selbst geht, er spricht vom Zustand aller Erwachten. Man kann auch heraushören, dass er uns Zuhörern bzw. Lesern eine Motivation mitgeben möchte: „durch vollkommene Weisheit ohne Hindernis im Geist“. Dazu sind auch wir aufgefordert.
Aber bis es soweit ist, drehen wir uns sozusagen nochmals um und sprechen über genau das, was der Bodhisattva Avalokiteshvara nicht mehr hat, wir gewöhnlichen Menschen aber umso mehr: Was sind Hindernisse im Geist? Das kann man auch so formulieren: Unser Thema ist jetzt genau das, was unser ursprüngliches erwachtes Sein so verblendet, dass wir uns eben überhaupt nicht „rein und klar“ vorkommen.
In einem allgemeineren Sinn kann man natürlich unter den „Hindernissen im Geist“ alle möglichen mentalen Phänomene verstehen, die die Menschen plagen, oft ohne dass sie es selbst durchschauen. Die moderne Psychologie kennt ja schon viele davon. In den Lehrreden werden sie aber oft sehr treffend mit zwei Begriffen zusammengefasst, die immer wieder auftauchen. Das sind zum einen die fünf Hemmungen (Pali: nivarana; Chinesisch: 盖gai), zum zweiten die 10 Fesseln (Pali: samyojana; Chinesisch: 结jie).
Die fünf Hemmungen
Die fünf Hemmungen sind eben die ruhelosen gedanklichen und emotionalen Aktivitäten im Gemüt, die die Ruhe und Klarheit des Geistes aufwirbeln und die Versenkung im stillen Sitzen verhindern. Jeder, der schon meditiert hat, kennt sie gut. Da werden unterschieden:
● Sinnliche Begierde (Pali: kama-chanda; Chinesisch: 贪欲 tan-yu)
● Übelwollen, Abneigung (Pali: vyapada, das ist wörtlich „geh-weg“; Chinesisch: 嗔恚 chen-hui)
● Trägheit und Mattheit (Pali: thina-middha; Chinesisch: 昏沉 hun-chen)
● Unruhe, Aufgeregtheit, Rastlosigkeit (Pali: uddhacca-kukkucca; Chinesisch 掉举 dao-ju)
● Zweifel (Unentschlossenheit, Unsicherheit) (Pali: vicikiccha; 疑 yi)
In der „Angereihten Sammlung der Lehrreden“ finden wir dazu schöne Gleichnisse im Gespräch mit dem Brahmanen Sangarava[i]. Er will eine geradezu alltagspsychologische Fragestellung mit Gautama Buddha besprechen: Warum ist das Erinnerungsvermögen oft bei ein und derselben Person so unterschiedlich ausgeprägt? Warum werden ganz geläufige Texte gnadenlos vergessen, während ein anderes Mal nur einmal gehörtes problemlos haften bleibt? Gautama führt das auf die unterschiedlich starke Präsenz der fünf Hemmungen im Moment des Inputs zurück. Der Geist wird mit dem Wasser in einem Teich verglichen:
- Unter dem Eindruck der Sinnesbegierde ist es, wie wenn Farbstoffe hineingeschüttet worden wären.
- Beherrscht von Übelwollen und Abneigung ist es wie erhitzt und brodelnd.
- Befallen von Trägheit und Mattigkeit ist es wie von Algen und Wasserpflanzen überwachsen.
- Getrieben von Unruhe, Aufgeregtheit und Rastlosigkeit ist es wie vom Wind aufgepeitscht.
- Von Zweifel befallen ist es wie schlammiges, trübes Wasser.
Das eigene Spiegelbild kann man in allen diesen Fällen genauso wenig im Wasser betrachten. Behaftet mit den fünf Hemmungen ist es wie man mit einem Geist weder sein eigenes Wesen erblicken noch die klare Aufmerksamkeit aufrecht erhalten kann. Und das ist auch der Grund für die Vergesslichkeit, nach der der Brahmane gefragt hat.
Diese fünf Hemmungen sind es also, die überwunden werden müssen, wenn man zur Versenkung oder Geistesruhe kommen will. Nicht nur beim stillen Sitzen sind diese Hemmungen störend. Sie führen auch im Alltag zur Unruhe. Die Überwindung dieser Hemmungen und die Geistesruhe sollen daher jederzeit angestrebt werden. Allein durch die Sammlung des Geistes können diese Hemmungen nicht nachhaltig überwunden werden, sondern durch die Wandlung der Gedanken und des Bewusstseins. Wie schon in den früheren Beiträgen beschrieben, basieren die Gedanken, Absichten und Handlungen auf der tiefen Bewusstseinsebene. Sind die Ursachen nicht beseitigt, kann das Karma nicht ausgeglichen und die Wirkungen nicht vermieden werden. Die Übung der Geistessammlung führt nur zu zeitweiligen Ruhezuständen, beseitigt aber nicht die Samen der geistigen Hemmungen. So sollen z. B.
- die Sinnesbegierde durch die Betrachtung der Abgeschiedenheit,
- das Übelwollen und die Abneigung durch Mitgefühl und Güte,
- die Trägheit und Mattheit durch Motivation und Disziplin,
- die Unruhe, Aufgeregtheit und Rastlosigkeit durch Geistessammlung und Achtsamkeit,
- der Zweifel durch Vertrauen als Frucht von Wissen und Weisheit
gezähmt und durchbrochen werden.
Erst wenn diese Hemmungen an der Wurzel bekämpft werden, kann die Geistesruhe gewahrt bleiben. Wenn der Geist und das Bewusstsein gewandelt sind, herrschen von selbst Ruhe und Klarheit im Geiste. Am stärksten führen zwischenmenschliche Reibungen zur Unruhe. Gerade bei Menschen, mit denen wir am engsten zusammenleben, ist die Übung der Weisheit zur Geisteswandlung anzusetzen. Gelingt dies, herrscht Frieden und Harmonie, was erst die profunde Basis für die Geistesruhe schafft.
Dazu ein Zitat vom Erhabenen Lehrer:
Warum sollst du sanftmütig sein? Das Messer ist sehr hart, nicht wahr? Wenn es oft harte Dinge schneidet, bricht es leicht. Wenn der Bogen zu stark gespannt ist, reißt die Sehne leicht. Schau die Zähne und die Zunge an: Die Zähne fallen zuerst ab. Die Sanftheit besiegt die Härte. Wir müssen friedlich sein und füreinander sorgen. Bei all den Angelegenheiten nicht streiten und bestreiten, sich nicht reizen lassen, nicht in Wut ausbrechen aber auch keinen Ärger in sich hineinfressen: Zu allen Zeiten die Geistesruhe bewahrend, wächst mit der Zeit immer mehr das tugendhafte Wesen.
[i] Anguttaranikaya, Das Fünfer Buch, 193: Sangarava Sutta, die fünf Hemmungen
Kategorien:Herzsutra 心经
Kommentar verfassen