Die zehn Fesseln Teil 1 – Die fünf niederen Fesseln

Herz Sutra – „Der Bodhisattva, durch vollkommene Weisheit ohne Hindernis im Geist“ – Teil 2

——Begleitlektüre zum Drei Schätze Retreat am 19.05.2021

Fortsetzung vom Beitrag „Die fünf Hemmungen

Die zehn Fesseln

Ein noch massiveres „Hindernis im Geist“, das der Bodhisattva in unserem Herz Sutra Vers überwunden hat, sind die sogenannten 10 Fesseln (Sanskrit: samyojana; Chinesisch: 结jie; wörtlich zusammengebunden, Joch). Sie heißen so, weil sie ans Dasein, an Samsara, „anjochen“. Im Einzelnen sind es:

Persönlichkeitsansicht, Personen-Existieren-Sicht (Pali: sakkaya-ditthi; Chinesisch: 身见 shen-jian)

Zweifel, Zweifelsucht (Pali: vicikiccha; Chinesisch: 疑 yi)

Anhängen an Regelwerk (Pali: silabbata-paramasa; 戒禁取 jie-jin-qu)

Sinnesbegierde/Sinnesreize (Pali: kama-raga = kama-cchanda; Chinesisch: 贪欲 tan-yu)

Übelwollen (Pali: vyapada; Chinesisch: 嗔恨 chen-hen)

Reiz an der Form (Pali: rupa-raga; Chinesisch: 色爱 se-ai)

Reiz am Formlosen (Pali: arupa-raga; Chinesisch: 无色爱 wu-se-ai)

(Ich-)Dünkel, Vermeinen (Pali: mana; Chinesisch: 我慢 wo-man)

Unruhe, Aufgeregtheit, Rastlosigkeit (Pali: uddhacca; Chinesisch: 悼举 dao-ju)

Fehlwissen (Pali: Avijja; Chinesisch: 无明 wu-ming)

Diese Fessel werden noch unterteilt in die sog. 5 niederen und höheren Fesseln. Die fünf Niederen halten einen in der niederen Welt, in den Sinneswelten, fest. Hat man diese überwunden, hat man sich zwar von der Wiedergeburt in den Sinneswelten befreit, aber wegen den fünf höheren Fesseln bleibt er am Dasein in den höheren Himmelswelten haften. Alles ist Geist! Diese Fesseln sind also die Anhaftungen im Geiste, die zu Gedanken und Handlungen führen, die karmischen Bedingungen verursachen, die die Verhältnisse und Umfelder des Lebens bestimmen. Wie das Wort „Fessel“ schon sagt: sie schränken uns in unserer Freiheit ein. Überwindet man sie, erlangt man Befreiung.

Die fünf niederen Fesseln

Wir kommen zuerst zu den niederen fünf Fesseln. Mit einem Zitat aus den Lehrreden wollen wir einen ersten Eindruck von diesen gewinnen. Buddha Gautama spricht zu Ananda:

„Ananda, ein nicht unterrichteter Weltling, […] weilt da mit einem Gemüt, das

  • von der Persönlichkeitsansicht
  • von der Zweifel
  • vom Anhängen an Regelwerk
  • von Sinnesbegierde
  • vom Übelwollen

besessen und versklavt ist, und er versteht nicht der Wirklichkeit entsprechend, wie man […] [diesen] entrinnt; und wenn […] [diese] zur Gewohnheit geworden und in ihm nicht ausgetrieben worden ist, ist sie eine niedrigere Fessel.“[i]

Was bedeuten nun die fünf niederen Fesseln jeweils?

Persönlichkeitsansicht, Personen-Existieren-Sicht (Pali: sakkaya-ditthi; Chinesisch: 身见 shen-jian)

Wörtlich bedeutet Sakkaya „es gibt Körper“ im Sinne von „Körper sind ultimativ real, und ich bin einer davon“. Es ist also der unterschwellige Glaube an feste Entitäten gemeint. Kurz könnte man sagen, es ist eben das genaue Gegenteil von jener Einsicht in die Leere, wie sie die Prajna Paramita Texte vermitteln wollen. Jeder Mensch kommt wohl schon mit Sakkaya-ditthi auf die Welt, es ist kein gedankliches Konzept, sondern schon im Unterbewusstsein da. Es ist eine festgefahrene Sicht- und Handlungsweise und als solche schwer aufzulösen: „Da muss doch was dahinter sein“.

Zweifel, Zweifelsucht (Pali: vicikiccha; Chinesisch: 疑 yi)

Das indische Wort bedeutet wörtlich „herumdrehen“, da denkt man also an „Gedanken herumwälzen“ oder „sich gedanklich im Kreis drehen“. Es ist eine mentale Endlosschleife gemeint, die nicht mehr weiterkommt und sich vollständig blockiert: Nicht ein Zweifeln, das man einfach mit blindem Glauben abwürgt und kein berechtigter Zweifel, der durch kompetente Fragenbeantwortung aufgelöst werden kann. Es ist der Zweifel gemeint, der sozusagen zum Selbstzweck geworden ist und sich für nichts mehr entscheiden kann. Im engeren Sinn weisen Sutratexte auf das mangelnde Vertrauen in die Lehre, den Lehrer oder die Ordensbrüder hin, was ein tatkräftiges Fortschreiten in der Übung verhindert und zur Verwirrung im Geiste führt.

Anhängen an Regelwerk (Pali: silabbata-paramasa; 戒禁取 jie-jin-qu)

Eine gute Übersetzung ist auch „falsches Angehen von Verhalten und Observanzen“, auch die ältere Übersetzung „Haften an Ritualen und Regeln“ trifft den Sinn. Gemeint ist die Tendenz zur Radikalisierung von Regeln und Geboten Diese sind Mittel zum Zweck und kein Selbstzweck. Auf den historischen Hintergrund zur Zeit Buddha Gautamas bezogen gab es zahlreiche rituelle Praktiken und Geboten, die zur Erlösung führen sollten, wie z. B. das Minimieren von Nahrungsaufnahme. Buddha Gautama selbst befolgte ebenfalls diesen Weg und erlitt beinahe einen Hungertod. Eine weitere Übersetzung dafür ist das „Festhalten an Gewohnheiten und Aufgaben“. Das deutet auf das starre Anhaften an gewohnten (falschen) Verhalten und Zielvorstellungen hin, die einen vom richtigen Weg abbringen. Dazu gehören auch das Anhaften an die starre Sitzmeditation, die strenge Askese oder die Abgeschiedenheit usw.  

Sinnesbegierde/Sinnesreize (Pali: kama-raga = kama-cchanda; Chinesisch: 贪欲 tan-yu)

Kama ist der sinnliche Bereich, Raga ist eigentlich ein Reiz. (In der klassischen indischen Musik ist es übrigens auch eine Bezeichnung für einen Musikstil.) Lust an Sinnesreizen fesselt natürlich an die Sinneswelt, an Samsara. Damit ist nicht nur der Sexualtrieb gemeint, es ist generell das Anhaften an sinnlich Wahrnehmbaren, auch an alle körperlichen Empfindungen.

Übelwollen (Pali: vyapada; Chinesisch: 嗔恨 chen-hen)

Wir alle kennen Menschen, denen das zum Lebensstil geworden ist: Die innige Freude daran, wenn’s anderen schlechter geht. Das ist das ziemliche Gegenteil von Loslassen und fesselt (karmisch) zuverlässig an die Wesen, denen man Übel wollte. Die chinesische Übersetzung des Begriffs deutet wörtlich radikal auf „Hass“ hin. Die Spannweite reicht hier also von geringfügiger Abneigung bis hin zu brennendem Hass. Letzterer ist aber schon die Bedingung für die Wiedergeburt in den Höllenwelten. Im Sinne der Überwindung von Sinneswelten ist wohl jene Geistesstabilität gemeint, die selbst auch die geringfügige Abneigung nicht aufkommen lässt. Erst dann ist es möglich, in die Nicht-Sinneswelten einzutreten.

Wie schon oben erwähnt, heißen diese deswegen „die fünf niederen Fesseln“, weil sie eben an die unteren Daseinsbereiche (die Sinneswelten) binden. Hat man es geschafft, sie aufzulösen, kann man sich vor Daseinsformen wie Höllenwesen, Tier und Hungergeist sicher fühlen. Damit ist aber noch nicht alles gesagt: Die Texte nennen diejenigen, die Persönlichkeitsansicht, Zweifelsucht und Anhängen an Tugendwerk überwunden haben, „Stromeingetretene“, d. h. sie sind sozusagen in den Strom zum Erwachen eingetreten. Sie „haben den Stadtverkehr verlassen und sind jetzt auf der Autobahn“. Und wer darüber hinaus noch Sinnesreizung und Übelwollen so halbwegs in den Griff gekriegt hat, der, so sagen die Lehrreden weiter, macht nur noch einmal Station in der Sinneswelt. Er ist also ein „Einmalwiederkehrer“. Sind aber alle fünf unteren Fesseln vollständig gelöst, kommt man nicht mehr in die Sinneswelten zurück. Das nennen die Texte einen „Nichtwiederkehrer“.

In der Längeren Sammlung der Lehrrede schildert Sariputra in einem Gespräch mit Buddha Gautama diese Wege wie folgt:

„Da kennt, Verehrungswürdiger, der Erhabene selber durch seine gründliche geistige Ausrichtung, die anderen Menschen: Dieser Mensch wird, wenn er genau meiner Lenkung nachfolgt,

nachdem er die drei Fesseln völlig vernichtet hat, in den Strom eintreten, kann nicht mehr in der Hölle erscheinen, ist bestimmt für das vollständige Erwachen, hat es als endgültiges Ziel.

nachdem er die drei Fesseln völlig vernichtet hat und aufgrund des Geringwerdens von Gier, Hass und Verblendung, ein Einmalwiederkehrer, nachdem er noch einmal zu dieser Welt zurückgekehrt ist, wird er das Leiden beenden.

nachdem er die fünf an niedere Welt kettenden Fesseln völlig vernichtet hat, spontan entstehen, kommt dort zum vollständigen Erlöschen, kann nicht mehr von jener Welt zurückkommen.“ [ii]

Bezogen auf die vier Vertiefungen (Versenkungsstufen) der Samadhi, sagt Buddha Gautama in der Lehrrede zu Ananda, das das Erlangen der ersten Vertiefung bereits die fünf niederen Fesseln löst:

„Und was, Ānanda, ist der Pfad, der Weg zur Überwindung der fünf niedrigeren Fesseln? In Abgeschiedenheit von jeglicher Vereinnahmung, mit der Überwindung unheilsamer Geisteszustände, mit der völligen Stillung körperlicher Trägheit tritt da ein Bhikkhu ganz abgeschieden von Sinnesvergnügen, abgeschieden von unheilsamen Geisteszuständen, in die erste Vertiefung ein, die von anfänglicher und anhaltender Hinwendung des Geistes begleitet ist, und verweilt darin, mit Verzückung und Glückseligkeit, die aus der Abgeschiedenheit entstanden sind.“[iii]

Damit ist die Frucht des Nichtwiederkehrers erlangt, d. h. man wird nicht mehr wiedergeboren im Samsara und verweilt in einem reinem Land im übersinnlichen himmlischen Bereich, bis auch die höheren Fessel überwunden sind und man das Nirvana erlangt und ein Arhat, ein Heiliger, wird. Damit ist dann das Samsara komplett überwunden und man ist erlöst vom Samsara, vom Kreislauf des Leidens. Viele Schüler Buddhas erlangten bereits in ihrem irdischen Leben das Erwachen zum Arhat. Das weist daraufhin, dass die Überwindung der höheren Fessel nicht notwendigerweise in einem reinen Land im übersinnlichen himmlischen Bereich erfolgen muss. Das Wesen der Praxis liegt daher in der Beseitigung der Hindernisse im Geist an jedem Ort und zu jeder Zeit.

Warum gibt es Streitigkeiten? Sie entstehen im Geist, wenn dieser die unguten Dingen aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hegt. […] Denke nicht an Vergangenheit, behalte nicht die Gegenwart und besinne nicht die Zukunft. So erst kann sich der Geist erst richtig zur Ruhe und Klarheit kommen. So erst hat er keine Hindernisse.

Die Dao-Praxis beginnt daher im Geiste. Es heißt: Die Formen entstehen aus dem Geist. Wenn die Buddha-Natur sich manifestiert, gibt es kein Besser und Schlechter, kein Gut oder Böse. Schon gar nicht wird sie von äußeren Umständen beeinflusst .

Die Mühen des Fleischkörpers ist nicht so schlimm wie die des Geistes. Wenn der Geist glücklich ist, gleicht es die Mühen des Fleischkörpers aus. Bei der Dao-Praxis soll man daher täglich die Freude bewahren. Schafft man es, ist man ein wahrhaftiger Praktizierender. Das ist die Geistesstabilität (Versenkung, Samadhi). [iv]


[i] Majjhimanikaya, 64

[ii] Dighanikaya 28

[iii] Majjhimanikaya, 64

[iv] 为什么会有是非?因由心起,因为心存着过去的不好,现在的不好,未来也认为不好,这叫『三心』,过去心不思,现在心不存,未来心不想,才能真正清静,心无罣碍。◎ 学道要先从心做起,所谓相由心生,佛性显现时,不会有好坏善恶,更不会被外境所影响。◎ 肉体的辛苦,比不上心灵的辛苦,若心灵愉快,可把肉体的辛苦抵销掉,修道要天天保持快乐,才是真正的修行人,这就是禅定。



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