Das Herz Sutra der großen vollkommenen Weisheit
Der Titel unseres Sutras kann wohl so verstanden werden, dass es sich hier um den Kern, die Essenz, eben das Herz der Prajna Paramita Texte handelt. Diese sind ja eine ganze Sammlung unterschiedlich langer Sutras. Sie behandeln ein zentrales Thema: die Leere (sanskrit: Shunyata; chinesisch: 空 kong).
Der kurze Text beschreibt die Erfahrung der Prajna Paramita (der vollkommenen Weisheit), der sechsten der 6 Paramitas (siehe Praxis), und wie durch sie die Wahrnehmung und das Weltverständnis des Sprechers, des Bodhisattva Avalokitesvhara, verändert wird. Avalokitesvhara macht hier also Aussagen aus einer „höchsten Sichtweise“ heraus, die für den Alltagsverstand zunächst einmal paradox klingen mögen. Unser Sutra beginnt mit dem ersten Satz:
Der sich kontemplativ selbst betrachtende Bodhisattva erlangte einmal tiefe Vervollkommnung der Weisheit
Die Bedeutung von „Bodhisattva“ wurde auf unserer Seite „Praxis“ bereits kurz beleuchtet. Bodhi, das ist das Erwachen, die Erleuchtungserfahrung. Sattva kann in den indischen Sprachen zwei Bedeutungen haben: die erste ist „Wesen“, die zweite ist „erstreben, anstreben“. So ist ein Bodhisattva ein „Erwachungswesen“ oder ein „das Bodhi Anstrebender“.
Wenn Gautama Buddha in den Nikayas von seinem Werdegang erzählt, benutzt er das Wort häufig in der zweiten Bedeutung:
„damals, ihr Bhikkhus, vor dem Erwachen, als ich lediglich ein unerwachter Bodhisattva war….“.
Im Mahayana wird das Wort oft im ersten Sinn verstanden. Allerdings sollte die Ebene der Wortbedeutung, auf der wir uns hier bewegen, nicht überschätzt werden. In der Chan Schule, also auch beim Ahnlehrer Huineng, gilt:
„Das eigene Urwesen ist an sich immer erwacht!“
Wir sollten uns beim Nachdenken über buddhistische Konzepte („Ist ein Bodhisattva erwacht oder nicht?“) nicht im „Dickicht der Ansichten“ verlaufen. Zumal man sich ja nicht für eine der beiden Bedeutungen exklusiv entscheiden muss, denn sie schließen einander nicht aus. Der Weg des Bodhisattva ist schließlich der umfassende Weg für alle Wesen.
Der Bodhisattva, um den es hier geht, wird im Sanskrit Avalokitesvhara genannt: „der Herr, der mit mitfühlenden Augen die Welt betrachtet“. Das ist auf Chinesisch Guan Yin (观音). Er steht für das Mitgefühl (Sanskrit: Karuna). Im chinesischen Herz Sutra Text, den wir hier behandeln, ist sein Name aber „der sich selbst kontemplativ betrachtende Bodhisattva“. Das klingt für mich eher nach dem Aspekt der Weisheit. Warum gibt es diese Abweichung? Nun, zum einen gehören Mitgefühl und Weisheit auf dem Bodhisattva Weg untrennbar zusammen. Sie bedingen einander sogar: Das Erfahren der Leere (Das ist die Definition von Prajna, das Erkennen der Dinge, wie sie wirklich sind.) lässt unweigerlich Mitgefühl aufkommen. Zum anderen handelt unser Text ausdrücklich von der Vervollkommnung der Weisheit, also erscheint es folgerichtig, wenn die Hauptperson eine Bezeichnung trägt, die auf den Weisheitsaspekt Bezug nimmt.
Ganz ähnlich hat Avalokitesvhara übrigens in China auch eine Geschlechtsumwandlung durchgemacht: Guan Yin ist weiblich. Den Chinesen erschien das Mitgefühl wohl besser durch eine Frau verkörpert. Die chinesische Legende erzählt von Guan Yin, die als Prinzessin auf ihre Stellung und ihren Reichtum verzichtete und schließlich durch aufopferungsvolle Praxis das Erwachen erlangte. Lokal mit der Insel Putuo(普陀)im südchinesischen Meer in Verbindung gebracht, hilft sie Menschen in der Not, welche sich durch Anrufung ihres Namens an sie wenden. Ihr ganzer Name Guanshiyin Pusa(观世音菩萨)bedeutet „Die Bodhisattva, welche die Nöte der Welt hört“.

Zusammengefasst strebt ein Bodhisattva zwei Ziele an: das höchste Erwachen als Buddha und die Erlösung aller Lebewesen: also Eigenhilfe zur Fremdhilfe. Das Mitgefühl steht für die Fremdhilfe, die Weisheit für die Eigenhilfe.
Von hier an beschreibt der Text eingehend den Zustand der uns umgebenden Welt aus der Sicht der vollkommenen Weisheit:
Ihm leuchtete auf: die fünf Ansammlungen sind alle leer – das löst alles Leiden.
Mit den fünf Ansammlungen stoßen wir hier auf einen zentralen Begriff in der Buddhalehre. Skandha ist das Sanskrit Wort, auf Pali heißt es Khandha – hier ein Link dazu im „buddhistischen Wörterbuch“ des deutschen Bhikkhus Nyanatiloka (Anton Gueth). Dieses Wörterbuch stellt die Buddhalehre aus der Theravada Sicht dar und wurde vor über 100 Jahren geschrieben. Es ist aber noch heute empfehlenswert. Anton Gueth (1878 bis 1957) war der erste deutschsprachige Bhikkhu überhaupt, der 1904 ordiniert wurde.
Wenn Gautama Buddha mit seinen Schülern über die Existenz (Welt und Ich) sprach, verwendete er also die Kategorien Form (Rupa), Gefühl (Vedana), Wahrnehmung (Sanna), Gestaltung (Sankhara), und Bewusstsein (Vinnana), um das gesamte Erleben des Menschen zu erklären. Weder kommt hier ein unabhängig existierendes „Ich“ noch eine unabhängig existierende „Welt“ vor! „Leben ist (nur) Erleben“, so kann man die Grundaussage hinter diesen Belehrungen Buddhas zu den Skandhas vielleicht auf den Punkt bringen. Dies allerdings widerstrebt dem gewöhnlichen menschlichen Bewusstsein, welches (unterschwellig) ständig noch mehr Konzepte aufstellen und Inhalte verdinglichen will. Der unerwachte „gewöhnliche Mensch“ macht allzu leicht aus den fünf Ansammlungen (die als Werkzeuge zur Befreiung des Geistes gelehrt wurden) selbst wiederum ein Gedankengebäude, an dem er anhaftet. Der „kontemplativ betrachtende Bodhisattva“ hingegen sieht die ganze Existenz aus erwachter Perspektive, in der auch den Skandhas keine wirkliche Eigenexistenz (Svabhava) zukommt – sie sind leer davon. Das ganze Herz Sutra wird uns eindrücklich dieses Leersein (Shunyata, 空kong) vor Augen führen, vor dem der unerwachte Geist unbewusst zurückschreckt.
In der Gruppierten Sammlung der Lehrreden handelt die 22. Gruppe, die Khandha Samyutta, von den fünf Ansammlungen. Immer wieder werden sie hier aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Allzu leicht verfällt man hier beim Lesen und Nachdenken in den erwähnten Substanzialismus und stellt sich feststehende Entitäten vor. Die Sutta 22.95 aber stellt die richtige Ansicht in bildhaften Gleichnissen dar. Bezüglich der Form sagt Gautama Buddha hier:
„Es ist, ihr Mönche, wie mit einer großen Schaummasse, die dieser Ganges mit sich führt. Ein scharfsichtiger Mann… der sie erblickt, über sie nachsinnt, sie gründlich untersucht, eben als leer würde sie da erscheinen, eben als hohl würde sie da erscheinen, eben als kernlos würde sie da erscheinen. Wie sollte auch, ihr Mönche, in einer Schaummasse ein Kern sein!“
Und über das Gefühl:
„… wie wenn zur Herbstzeit, wenn Regen in schweren Tropfen fällt, im Wasser Blasen entstehen und wieder verschwinden…“
Zur Wahrnehmung:
„…wie wenn im letzten Monat des Sommers zur Mittagszeit eine Luftspiegelung erscheint…“
Zu den Gestaltungen:
„… Wie wenn ein Mann, der Kernholz wünscht … einen Bananenstamm fällt, die Spitzen abschneidet und die Blattscheiden beseitigt …“ (der Bananenstamm ist innen hohl und ohne Holz)
Und schließlich zum Bewusstsein:
„…wie wenn ein Gaukler… sein Gaukelwerk zeigt“
Die Sutra schließt mit einem zusammenfassenden Gedicht, das im Diamant Sutra fast wörtlich zitiert wird:
Dem Schaumball gleicht der Körper
Der Wasserblase das Gefühl
Ein Luftphantom ist Wahrnehmung der Sinne
Gestaltungen sind ohne Kern wie der Bananenstamm
Und Gaukelkünsten ähnelt das Bewusstsein
So hat der Sonnenheld[1] es aufgezeigt
Allerding ist Leere aber nicht unbedeutend. Für die Zeit des Daseins sind die fünf Ansammlungen ein Werkzeug, mit dem ein ethisches, edles und weises Dasein zur Vollbringung von tugendhaften Verdiesten gelebt werden kann. Erst nach dem Erkennen der Leerheit ist es möglich und auch wichtig, den Bodhisattva Weg zu beschreiten, um einen Vernichtungsglauben (Nihilismus) zu vermeiden.
[1] Eine poetische Bezeichnung für den Gautama Buddha
<– Herz Sutra – Übersetzung Deutsch und Chinesisch
Über das Herz Sutra – Kommentar (2) –>
Kategorien:Buddhismus, Herzsutra 心经
Kommentar verfassen