Herz Sutra – „Sariputra“
——Begleitlektüre zum Drei Schätze Retreat am 03.12.2020
Die chinesische Version des Herz-Sutra Textes, die wir hier zugrunde legen, ist aufgrund ihrer Kompaktheit und Poesie die in Ostasien beliebteste und gebräuchlichste. Es gibt aber noch andere Ausgaben, die ausführlicher sind und daher Angaben machen, die in unserem Text stillschweigend vorausgesetzt werden. Diese beinhalten auch die übliche Nennung des Ortes, der anwesenden Personen und des Anlasses, weshalb die betreffende Lehrrede gehalten wurde: Dies ist der klassische Auftakt buddhistischer Sutren.
So teilt uns auch die Einleitung zur elaborierteren Ausgabe des Herz Sutras dieses Szenario mit: Der Ort ist auf dem „Geiergipfel“ (Sanskrit: Gṛdhrakūṭa), nahe der altindischen Stadt Rājagaha. Bei einer Versammlung von Gautama Buddha mit zahlreichen Bodhisattvas und großen (bedeutenden) Mönchen erlangt Bodhisattva Avalokiteshvara den Zustand der „vollkommenen Weisheit“. Sariputra, einer der ältesten Schüler Buddhas, fragt ihn nach einer Erläuterung dieses Zustandes. Avalokiteshvaras Antwort ist dann der Haupttext des Sutras, der in allen Versionen gleich ist und auch unseren Text ausmacht.
Wer dieser Sariputra ist, wird in diesem Blogbeitrag erläutert:
Versetzen wir uns also in das nördliche Indien, das Gebiet des Gangesbeckens, vor 2500 Jahren…
Es waren einmal 2 junge Burschen, die schon seit dem Kleinkindalter eng befreundet waren, da ihre Familien, die beide der mächtigen Kaste der Brahmanen angehörten, schon seit Generationen enge Beziehungen miteinander unterhielten. Upatissa, so hieß der eine, hatte den Brahmanen Venganta zum Vater, seine hochgestellte und einflussreiche Mutter hieß Rupasari. Da sie sozusagen eine lokale Berühmtheit war, wurde ihr erstgeborener Sohn meistens nicht bei seinem echten Namen gerufen, sondern einfach (nach der verkürzten Alltagsversion des mütterlichen Namens) Sari-Putra („Sohn der Sari“) genannt. Sein Freund hieß Moggallana.
Eines Tages nun schauen sich die beiden an einem Festtag ein fröhliches Mimenspiel an, eine Theateraufführung mit Tanz und Gesang. Doch plötzlich überfällt Upatissa/Sariputra ein bedrückender Gedanke: Alle diese fröhlichen Menschen, die schönen jungen Tänzerinnen, die geschickten Schauspieler und Musikanten – sie alle sind in hundert Jahren tot, und in zweihundert Jahren ist ihre Spur in der Welt so verschwunden, als ob sie nie gelebt hätten! Denn alle, die einen Bezug zu ihnen hatten, sind dann ihrerseits tot! Schlagartig ist dem jungen Brahmanensohn, der bis dahin völlig unbeschwert weltlich gelebt hat, die (buddhistische) Wahrheit der Unbeständigkeit allen Seins von selbst aufgegangen…
Natürlich redete er ausführlich mit Moggallana über seinen Gemütszustand, und seinem Freund ging es beim Zuhören ebenso. Die beiden fragten sich, was sie jetzt anfangen sollten. Das gewöhnliche Leben war ihnen nun gründlich verleidet. Damals lag im alten Indien eine Option für solche Fälle nahe und war gesellschaftlich akzeptiert: in die Hauslosigkeit gehen, ein spirituell suchender wandernder Einsiedler werden. Die beiden Freunde würden sich jetzt trennen, unabhängig voneinander das Einzugsgebiet des Ganges auf der Suche nach spirituellen Lehrern durchstreifen. Samanas wurden diese Heilsgestalten genannt, sie waren ein alltäglicher Anblick auf den Straßen. Jeder von ihnen gab jeweils seine exklusive Lehre dem interessierten Publikum zum Besten, wobei durchaus um Aufmerksamkeit, Prestige und nicht zuletzt Spendengaben konkurriert wurde. Sariputra und Moggallana gaben sich das Versprechen, wenn einer von ihnen eine wirklich überzeugende Lehre fände, die für ihn das Problem des Daseins löse, würde er umgehend den anderen aufsuchen und ihm berichten.
Nun begann für die Beiden also eine Zeit der Wanderungen und des Kennenlernens unterschiedlicher Lehren, wobei das Spektrum des Gehörten von tiefen Lebensweisheiten bis zu ziemlichen Albernheiten reichte. Etwa so wie in der heutigen Esoterikszene. Das was sie suchten, war aber nicht dabei.
Eines Tages aber, in Rajagaha, der Hauptstadt des Maghadha Reichs (dieselbe Stadt, in deren Nähe der Schauplatz des Herz Sutras, der Geiergipfel, liegt) fiel Sariputra in den Straßen eine Gestalt auf, die ihn faszinierte. Dieser Mensch, dachte Sariputra bei sich, hat eine Ausstrahlung, als ob er eine ungemein beglückende Erfahrung gemacht hat. Er wagte es den Menschen anzusprechen.
„ Wer ist dein Meister?“ kam er nach den ersten ausgetauschten Höflichkeiten schnell zum Punkt.
„Mein Meister ist der große Weise aus dem Geschlecht der Sakhya, Gautama“ antwortete der Fremde.
Es war der erwachte Mönch Assaji, einer der ersten fünf Schüler Gautama Buddhas, ein Arhat. Nach der Lehre Gautamas gefragt, meinte Assaji, er habe nicht dieselbe Fähigkeit zum Lehren wie sein Meister. Sariputra möge also Gautama selbst aufsuchen. Diese Bescheidenheit widerlegte Assaji aber unmittelbar darauf selbst, indem er Sariputra einen Vers als Quintessenz der Buddhalehre aufsagte:
Von den bedingt entstandenen Dingen
gibt der Erhabene uns die Ursachen an
und auch wie sie zugrunde gehen
erklärt der große Weise
Das Hören dieses einen Satzes genügte Sariputra. Er wusste: Jetzt hat er seinen Lehrer gefunden.
Der weitere Gang der Dinge ist schnell erzählt. Zuerst galt es Freund Moggallana zu finden. Nachdem Sariputra ihn gefunden hatte, wurde dieser bei dem obigen Vers genauso hellhörig. Anschließend machten die beiden Gautama Buddha ihre Aufwartung mit dem Wunsch, Mönche zu werden. Die alten Quellen sagen, dass Gautama die beiden schon bei der allerersten Begegnung mit großer Selbstverständlichkeit zu Mönchen ordinierte. Zum Verdruss der Schüler, die er schon hatte, bemerkte er gelassen, Sariputra und Moggallana würden in Zukunft seine beiden Hauptschüler sein.
So geschah es auch: Zusammen mit seinem Freund, der bald als Mahamoggallana (Großer Moggallana) bekannt wurde, gilt Sariputra bis heute als wichtigster Nachfolger und „Mitarbeiter“ Gautama Buddhas. Er wird bisweilen respektvoll als der „Marschall der Lehre“ bezeichnet, da er die Lehre so gut wie sonst nur noch der Buddha selbst erklären und anderen vermitteln konnte. Im Herz Sutra hingegen spielt er, abgesehen von seiner Frage, eine passive Rolle, es spricht hier nur der Bodhisattva. Dass Sariputra in einem Prajna Paramita Text als Ansprechpartner auftritt, macht Sinn, denn die Weisheit gilt, laut der Überlieferung, als seine charakteristische Domäne. Es gibt eine ganze Anzahl von Lehrreden, die er stellvertretend für den Buddha hält. Die Kompilation der Lehrreden der Mittleren Sammlung Majjhima Nikaya, die einen Fokus auf philosophische Darlegungen zeigen, wurde laut der Tradition im engeren Schülerkreis des Sariputra vorgenommen.
In der chinesischen phonetischen Übersetzung des Namens Sariputra, She Li Zi 舍利子, schwingt auch wieder eine Doppelbedeutung mit: Mit dem Wort können auch Reliquien bezeichnet werden, die vom Leichnam erwachter Meister nach deren Einäscherung übrig bleiben. Im übertragenen Sinn kann darunter auch die Essenz der Lehre des Buddha verstanden werden. So wird es möglich, dass alte Kommentare chinesischer Meister das Herz Sutra so verstehen, dass der Bodhisattva weniger den historischen Sariputra anspricht, sondern vielmehr die Essenz der Buddhalehre ausspricht.
Im nächsten Beitrag behandeln wir die erste dieser Aussagen, die die Essenz der Buddhalehre ausmachen:
„Form, nicht verschieden von Leerheit – Leerheit, nicht verschieden von Form. Form ist Leerheit, Leerheit ist Form.“
(Fortsetzung folgt)
„Form ist Leerheit, Leerheit ist Form.“–>
Kategorien:Herzsutra 心经
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