In den sechziger Jahren des ersten Jahrhunderts machte Lucius Annaeus Seneca in einem Brief an seinen Freund Lucilius, mit dem gemeinsam er sich um die stoische Philosophie bemühte, seinem Ärger über gewisse Erscheinungen bei den Stoikern Luft.
Eine eigentümliche Neigung tritt nicht nur damals bei den Stoikern, sondern bei allen Weltanschauungen oder Philosophien der Menschheitsgeschichte auf. Es ist die, einfache und klare Lehren kompliziert zu machen.
Warum gibt es überhaupt Philosophie? Für die Menschen in antiken Kulturen war die Antwort diese: um ein besseres, also gelingendes und sinnvolleres Leben zu führen. Um ein nützliches, sich auf das Umfeld positiv auswirkendes Mitglied der Menschheitsfamilie zu werden und um keine Angst mehr vor dem Tod zu haben. Die Lehre vom Dao oder die Buddhalehre lassen sich da ganz zwanglos dazuzählen.
Mit der Zeit aber wurden solche Lehren, weil sie eben zu erfolgreich wurden und zu groß, zum Selbstzweck. Was einmal Werkzeug war, um die oben genannten großen Ziele zu erreichen, gewann ein Eigenleben und kreiste nur noch um sich selbst. So entstanden ungeheure Berge von Büchern, Kommentare wurden geschrieben, um Klares nochmal zu erklären, und neue Kommentare, um wiederum diese Kommentare zu kommentieren. In den buddhistischen Klöstern des alten Asien wurde teilweise offen eingestanden, dass Mönche dies taten, weil sie nicht den ganzen Tag meditieren wollten oder konnten. Was ja eigentlich der Sinn des Mönchstums wäre.
Zurück nun zum Falle der Stoiker im römischen Reich damals. Sie lebten äußerlich ein normales, bürgerliches Leben, in dem sie versuchten, über ihre Emotionen, Triebe und Neigungen Herr zu werden und die „Ataraxia“, die seelische Ruhe und Ausgeglichenheit zu erreichen. Diese Ataraxia war sozusagen ihre einfache, bescheidene Version des buddhistischen Nirvana. Dazu diente als Hilfsmittel unter anderem die Beschäftigung mit Logik und Grammatik. Denn Klarheit über den Wortgebrauch, so hofften sie, führt zu klarer Sicht und rechtem Denken – was ja wiederum ein Glied des achtfachen Pfades Buddhas ist.
So weit, so gut. Nun schlagen wir aber mal den achtundvierzigsten der „Briefe an Lucilius“ auf und hören Senecas Klage, was zu seiner Zeit bei manchen Stoikern daraus geworden ist:
„ „Maus“ ist eine Silbe, nun aber knabbert die Maus am Käse; folglich knabbert die Silbe am Käse. Nimm nun einmal an, dass ich dies nicht lösen (widerlegen) kann: welche Gefahr droht mir dann? Dass ich irgendwann anfange, in der Mausefalle Silben zu fangen? Oder dass ich befürchte, eines meiner Bücher könnte meinen Käse wegfressen? […] Welch kindische Albernheiten! Dafür haben wir die Stirn gerunzelt? Dafür uns einen würdigen Philosophenbart wachsen lassen? Das ist es, was wir tiefernst lehren, mit einer Stubenhockerblässe?“
Kein Wunder, meint Seneca weiter, dass die Brotbäcker und die Pferdeknechte lachen, wenn sie das Wort „Philosophie“ auch nur hören! Er hat natürlich aus rhetorischen Gründen ein grelles Beispiel gewählt, aber die Tendenz sollte klar sein. Und es ist nicht mal unbedingt erfunden, die Philosophiegeschichte ist voll von solchen „Problemstellungen“, bei denen ein Außenstehender das Gefühl bekommt, Verrückten zuzuhören.
Dann aber kommt der Brief zum wirklichen Zweck der Philosophie als Lehre vom guten Leben zurück. Seneca richtet folgenden Appell an Lucilius:
„Willst du wissen, was die Philosophie den Menschen verheißt? Einen Rat.
Den einen ruft der Tod, einen anderen brennt die Armut, wieder einen anderen quält der Reichtum, sei es eigener, sei es fremder […] mit diesem gehen die Menschen schlecht um, mit jenem die Götter. Was konstruierst du solche Spielereien? Scherzen ist hier fehl am Platz: zu den Unglücklichen bist du berufen. Hilfe zu bringen den Schiffbrüchigen, Gefangenen, Kranken, Bedürftigen hast du versprochen. Wohin weichst du aus? Was tust du? Der, mit dem du dein Spiel treibst, hat Angst: Eile ihm zur Hilfe!“
Das klingt doch schon ganz anders. Daran denken die „Bäcker und Pferdeknechte“ wohl nicht, wenn sie von Philosophen hören. Sowohl Seneca als auch Lucilius gehörten der römischen Elite an, waren also einflussreich und nahmen auch öffentliche Ämter wahr. Sie hatten als Teil ihrer stoischen Praxis also reichliche Gelegenheit, ganz konkret zu wirken. Ohne den Begriff Bodhicitta gekannt zu haben, spricht Seneca doch davon, wie sich Mitgefühl und Weisheit gegenseitig bedingen und unterstützen. Außenstehende haben oft ein gutes Gespür dafür, ob jemand oder etwas authentisch ist. Spüren sie authentische Weisheit und Güte, dann lachen die „Bäcker und Pferdeknechte“ auch nicht mehr über „die Philosophen“, sondern gestehen ihnen selbstverständlich ihre Daseinsberechtigung zu.
Kategorien:Philosophie, Stoa/Stoizismus
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