Podiumsutra – Kap. 1 (7): Ohne jegliche Anhaftung entsteht der Sinn

Dharmaschatz Podiumsutra d. 6. Ahnlehrers

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Kap. 1 (7): Ohne jegliche Anhaftung entsteht der Sinn

— Begleitlektüre zum wöchentlichen Drei Schätze Retreat am 31.10.2019

Huineng ließ sein Gedicht also auf die Mauer schreiben. Die Anwesenden waren alle voller Bewunderung und fragten sich gar, ob Huineng nicht etwa ein lebender Bodhisattva sei. Ahnlehrer Hongren hingegen machte sich angesichts dieser Wirkung des Gedichts Sorgen, dass übel gesinnte Konkurrenten Huineng schaden könnten. Er zog seinen Schuh aus, wischte damit das Gedicht von Huineng weg und erklärte: „Das natürliche Wesen wurde nicht erkannt!“ Dies war eine durchaus erniedrigende Geste. Deshalb gingen alle davon aus, dass das Gedicht unbedeutend war und beachteten es nicht mehr weiter.

Am nächsten Tag kam der Ahnlehrer wie zufällig zur Reismühle, mit welcher Huineng gerade Reis schälte. Dieses Gerät, das wie eine Wippe ausschaut, wird  bedient, indem man an der einer Seite aufstampft, damit beim Loslassen die andre Seite wie ein Hammer auf die Reiskörner fällt und sie schält. Die Stärke der Kraft hängt stark vom Körpergewicht ab, und da Huineng klein gewachsen war und wenig wog, band er sich einen Stein um die Taille, um mehr Wucht zu erzeugen. Ersichtlich eine sehr harte Arbeit! Andere Quellen berichten davon, wie sich Huineng dadurch Verletzungen an Beinen und Füssen zugezogen hat. Der Ahnlehrer sagte anerkennend: „Du bist wohl einer, der das Dao sucht und dabei seinen Körper vergisst, nur um das Dharma zu erlangen!“[i]

Dann fragte ihm der Ahnlehrer: „Ist der Reis schon reif?“
Huineng antwortete: „Der Reis ist schon längst reif, nur das Sieben steht noch aus.“ [ii]

Huineng verstand, dass der Ahnlehrer nicht wirklich den Reis meinte, sondern ob er sein natürliches Wesen schon erkannt hat. Er bejahte und drückte gleichzeitig seinen Wunsch aus, vom Meister die Bestätigung zu erhalten. Beide sprachen keinen Klartext, aber wussten genau, was gemeint war. Dies ist die Art und Weise, wie im Chan-Buddhismus der Lehrer herausfindet, ob der Schüler die Lehre begriffen hat.

Daraufhin klopfte der Ahnlehrer mit seinem Stab drei Mal auf die Reismühle und ging. Huineng hat gleich begriffen, dass er ins Gemach des Ahnlehrers kommen soll, wenn „drei Mal getrommelt wird“ (Zeitangabe: etwa zwischen 11 und 01 Uhr nachts).[iii]

In Zeitaltern vor dem Gebrauch elektrischer Beleuchtung war es üblich, dass sich nach der Dämmerung alles zur Bettruhe begab. Um Mitternacht sollten daher alle schon im Tiefschlaf sich befinden. Dass der Ahnlehrer wichtige Botschaften nachts in seinem Gemach übermitteln möchte, zeigt uns die komplexen Verhältnisse im Kloster: Der Ahnlehrer möchte jemanden finden, der die Lehre tatsächlich begriffen hat. Die meisten Schüler bevorzugten Shenxiu in dieser Position. Die Angelegenheit bezüglich der Nachfolge des Ahnlehrers war ein sehr heikles Unterfangen. Im späteren Verlauf der Geschichte zeigt sich, dass viele von ihnen sogar so weit gingen, unter Bruch der buddhistischen ethischen Prinzipien, geschweige der Mönchsregeln, zur Gewalt zu greifen. Es ist wirklich zu bedauern, wie wenig manche Schüler eine wirkliche Praxis im Sinn hatten!

Huineng kam um Mitternacht ins Gemach des Ahnlehrers. Der Ahnlehrer legte die Robe um ihn, sodass niemand einsehen konnte. Er legte dann das Diamanten-Sutra aus.[iv]

Es bleibt mysteriös, was und warum man nicht sehen durfte, schließlich ist es nachts und sie sind allein im Zimmer. Das weit verbreitete Diamant-Sutra auslegen – was soll es da Geheimnisvolles zu verbergen geben? Es gibt keine einheitliche Erklärung dafür. Das gleiche wird vom historischen Buddha und seinem Schüler Mahakasyapa bei der Übergabe des „Haupt-Dharma-Augen-Schatzes“ erzählt. Auf dieser Art sollte das Dharma von einem Ahnlehrer an den nächsten weitergegeben worden sein. Was konkret weitergegeben worden ist? Dies bleibt ein Geheimnis des Chan-Buddhismus.

Im Text heißt dann weiter:

Als Huineng die Worte „Ohne jegliche Anhaftung entsteht der Sinn“ hörte, überkam ihm das große Erwachen, und er begriff: Alle Phänomene sind eins mit dem eigenen natürlichen Wesen. Er rief aus:

 „Unglaublich ist das natürliche Wesen: an und für sich klar und rein;
Unglaublich ist das natürliche Wesen: ohne Entstehen und Vergehen;
Unglaublich ist das natürliche Wesen: von Natur aus vollkommen;         
Unglaublich ist das natürliche Wesen: unerschütterlich und unwandelbar;
Unglaublich ist das natürliche Wesen: Es bringt alle Phänomene hervor!“[v]

Der Ahnlehrer sah, dass Huineng begriffen hatte, und sagte: „Wer seinen natürlichen Sinn nicht erkennt, dem nützt es nichts, das Dharma zu lernen. Wer den natürlichen Sinn erkennt und das natürliche Wesen erblickt, kann ein Großer, ein Lehrer für Himmel und Mensch, ein Buddha genannt werden.“[vi]

Huineng hat somit die volle Erkenntnis seines eigenen Wesens erlangt!

Zusammenfassend wollen wir uns seinen Entwicklungsprozess nochmals vor Augen führen:

Als Huineng in der Gaststätte die Rezitation des Diamant-Sutras hörte, erlebte er ein erstes Erwachen. Es heißt, dass sein Herz auf Anhieb geöffnet wurde und er begriff. Was konkret? Das wurde nicht beschrieben. Dieses Erlebnis war derart befreiend und beeindruckend gewesen, dass er die Buddhalehre ab nun als sein Lebensziel gesehen hat. Er war fest entschlossen, zum 5. Ahnlehrer zu gehen und sein Schüler zu werden.

Auf dem Weg zum Kloster Dongchan scheinen ihm weitere Erkenntnisse zugekommen zu sein, da er beim ersten Gespräch mit dem Ahnlehrer erwähnte, dass aus seinem Herzen ständig Weisheiten empor kommen. Das erinnert an Ahnlehrer Hongrens Ausspruch: “Das eine Wahre bringt alles Wahre mit sich, alle Zustände entsprechen dem natürlichen Sinn.” Das Erwachen ist somit keine tote Stille, sondern lebendige Quelle von Weisheiten. Ohne Anhaftung und Verblendung gelingt es dem natürlichen Wesen, ungehindert authentisch zu sein.

Dann verrichtete Huineng  acht Monate lang harte Arbeit in der Reismühle. Diese wird ihm geholfen haben, tief verwurzelte Anhaftungen abzulegen und so seinen Gemütszustand zu festigen: er beschrieb diesen Zustand dann in seinem Gedicht mit den berühmten Versen: “Ursprünglich ist es ohne Ding, wo nun ist hier Staub?”

Anhand dieser Beschreibung erkannte der Ahnlehrer, dass Huineng schon so weit war, das Dharma zu empfangen. Er suchte ihn daraufhin in der Reismühle auf. Dort prüfte er Huineng nochmals mit der Frage, ob der Reis schon reif sei. Huineng sieht seinen „Reis“ als „reif“, wartet aber noch auf „das Sieb“. Ein untypisches Gespräch zwischen dem Meister und einem Mitarbeiter der Reismühle! Offensichtlich verstanden die beiden selbst ganz was anderes drunter, ohne vorher miteinander gesprochen zu haben. Der Ahnlehrer war zufrieden mit seiner Antwort und wies ihn an, nachts zu ihm zu kommen.

Letztlich erlangte Huineng den vollen Durchbruch bei der nächtlichen Übermittlung des Dharmas durch den Ahnlehrer. Wie intensiv diese Erfahrung sein muss, deuten seine euphorischen Ausrufe an. Wenn wir uns an die Sätze erinnern, welche der Ahnlehrer einst zu Shenxiu bezüglich des Erwachens richtete:

Beim vollkommenen Erwachen erkennt man unmittelbar den ursprünglichen (natürlichen) Sinn und erblickt das ursprüngliche (natürliche) Wesen: ohne Entstehen und ohne Vergehen;  Zu jeder Zeit bei jedem Gedanke erkennt man es: keine der zehntausenden Phänomene bleiben noch haften. Dies eine Wahre (Natur) bringt alles Wahre mit sich, und sämtliche Zustände entsprechen dem natürlichen Sinn. Der natürliche Sinn ist (der) wahrhaftig(e Sinn).[vii] 

Wenn wir sie mit den Aussagen von Huineng vergleichen, dann stimmen die beiden sinngemäß überein:

Unglaublich ist das natürliche Wesen: an und für sich klar und rein;
Unglaublich ist das natürliche Wesen: ohne Entstehen und Vergehen;
Unglaublich ist das natürliche Wesen: von Natur aus vollkommen;
Unglaublich ist das natürliche Wesen: unerschütterlich und nicht wandelbar;
Unglaublich ist das natürliche Wesen: Es bringt alle Phänomene hervor!

Der Ahnlehrer beschreibt das natürliche Wesen als „ohne Entstehen und Vergehen“, so auch Huineng. Das ursprüngliche Wesen ist demnach ein Zustand des absoluten Seins, ohne Differenzierung. Es ist nicht in Polaritäten verfangen: kein Auf und Ab, kein Kommen und Gehen, unabhängig von Raum und Zeit. Man kann es mit den Wellen am Meer vergleichen: die Wellen gehen auf und ab – das ist das „Entstehen und Vergehen“ . Wenn die Wellen sinken, kehren sie zu ihrem Ursprung zurück. Das Meereswasser hat sich im Wesen nicht verändert – „nicht entstanden, nicht vergangen“.

Weiters spricht der Ahnlehrer davon, dass es zu jeder Zeit, bei jedem Gedanken nicht an den Phänomenen haften bleibt und ungehindert in Fluss ist. Das entspricht dem, was Huineng als „an und für sich klar und rein“ beschreibt. Diese Klarheit und Reinheit ist ein natürlicher Zustand, bei welchem die Sinnesreize an Kraft verlieren und nichts hängen bleibt. Während Shenxiu seine Klarheit noch mit ständiger Achtsamkeit herbeizuführen sucht, sieht Huineng dies als natürlich gegeben. Um es wieder mit dem Wasser zu vergleichen: das Wasser kann sich mit der Erde vermischen, andersartig verunreinigt werden, aber es hat dabei nicht seine Grundeigenschaft verloren. Gibt es Zeit und Ruhe, wird es wieder klar und rein. Es ist daher nicht möglich, es wirklich zu verunreinigen.

Was der Ahnlehrer mit dem einen „Wahren“, der alles Wahre mit sich bringt, beschreiben möchte, entspricht dem, was Huineng „von Natur aus vollkommen“ und „unerschütterlich und unwandelbar“ nennt. Das Wort „Wahr“ im Chinesischen birgt die Bedeutung „unwandelbar“ in sich: es stellt das absolute Sein dar. „Unerschütterlich“ ist es auch, wenn „alle Zustände dem natürlichen Sinn“ entsprechen. Das Wort, was hier als der „natürliche Sinn“ übersetzt wurde, kann auch als die Soheit bezeichnet werden. Die Bedeutung ist, bei jedem Umstand nicht vom natürlichen Sein abzukommen. So wie das Wasser an allerlei Dingen vorbei fließt, es nicht bei schönen Dingen stehenbleibt, unschönen Sachen nicht ausweicht, unbefangen seine Funktion erfüllt und alles Leben nährt, ohne etwas dafür zu verlangen.

Wenn es heißt: dieses Wahre bringt alles Wahre mit sich, dann meint dies den Ursprung, der authentische Phänomene hervorbringt. Huineng sagt: Das natürliche Wesen bringt alle Phänomene hervor! So wie zehntausend Wellen brausen und sausen – ihr Ursprung und Wesen ist unverändert das Wasser. Auch wenn unzählige Regentropfen, Schneeflocken oder Hagel sich weit und breit verteilen – bleiben sie im Wesen unverändert. Mögen Myriaden an Gedanken ihr Unwesen treiben – sie stammen aus dem gleichen ursprünglichen Wesen und sind eins mit diesem: Ist dieses Wesen durch Verblendung verdeckt, dann sind sie gefärbt von Gier, Hass und Verblendung. Ist die Verblendung verschwunden, sprudeln aus ihm Weisheit und Güte! Verblendung und Weisheit entspringen der gleichen Natur, sie sind eins und non-dual.

Der Ahnlehrer erkannte, dass Huineng genau das begriffen hat, was er ihm übermitteln wollte, gab ihm die Bestätigung und verglich ihn mit dem „Großen“, dem „Lehrer von Himmel und Mensch“ und dem „Buddha“. Nachdem Huineng schon beim ersten Eintreffen im Kloster gesagt hat, er suche nur danach, Buddha zu werden, gab ihm der Ahnlehrer jetzt die Bestätigung, dass er sein Ziel erreicht hat.

Diese verbale Schilderung kann schwer die reale Erfahrung eines Erwachten darstellen. Wer sich noch nicht tiefer mit der buddhistischen Lehre beschäftigt hat, wird nicht viel damit anfangen. Aber man sollte sich davon nicht abschrecken lassen. Schließlich geht es um die eigentliche Natur eines jeden von uns. Wichtig ist in erster Linie, die richtige buddhistische Sichtweise für die Praxis zu verstehen. Kurz gesagt kann man diese für Laien so verstehen:

Die meisten Menschen üben Meditation und ähnliches, um Gesundheit, Ruhe und Versenkung zu erlangen. In Wirklichkeit aber können wir weder unseren Körper noch unseren Geist nach Wunsch  in einem bestimmten Zustand festhalten. Denn der Körper ändert sich ständig: die Zellen erneuern sich permanent, Kreislauf und Stoffwechsel sind laufend in Gange. Man wird reifer, aber auch krank und alt und stirbt schließlich. Auch Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken ändern sich stets, sie kommen und gehen und sind in keinem Moment gleich. Auch unsere Ansichten und Einstellungen, unsere Zu- und Abneigungen ändern sich mit der Zeit. Man kann in keinem Moment behaupten, dass man gewiss immer so bleiben wird, wie man jetzt ist. Egal wie sehr man sich verändert, man sollte lernen, Unbeständigkeit zu akzeptieren, und nicht versuchen, sie zu beeinflussen oder aktiv zu verhindern. Betrachte sie einfach wie ein Trugbild oder eine Täuschung. Indem man sich nicht von den Umständen täuschen und irreführen lässt, bleibt man unerschütterlich und unwandelbar. Betrachte das „natürliche Wesen“ nicht als ein Ding, sondern als einen Zustand, bei welchem man an nichts haftet. Man wird immer Sinnesreize und damit verbunden Gefühle und Gedanken hegen, aber man lässt sich nicht mehr von ihnen beeinträchtigen. Es ist natürlich und normal, dass man Gedanken und Gefühle hegt! Auch diese sind die Auswirkungen des natürlichen Wesens. Man lernt, alt eingewurzelte Ansichten aufzubrechen und nicht versessen auf die eigenen subjektiven Vorstellungen und Ideen zu sein. Das sollte der Nutzen sein, den man aus der Übung zieht.

[i] “次日,祖潜至碓坊,见能腰石舂米,语曰:‘求道之人,为法忘躯,当如是乎!’

[ii]乃问曰:‘米熟也未?’惠能曰:‘米熟久矣,犹欠筛在。’

[iii]祖以杖击碓三下而去。惠能即会祖意,三鼓入室;

[iv]祖以袈裟遮围,不令人见,为说《金刚经》。

[v]至‘应无所住而生其心’,惠能言下大悟,一切万法,不离自性。遂启祖言:‘何期自性,本自清净;何期自性,本不生灭;何期自性,本自具足;何期自性,本无动摇;何期自性,能生万法。’

[vi]祖知悟本性,谓惠能曰:‘不识本心,学法无益;若识自本心,见自本性,即名丈夫、天人师、佛。’

[vii]祖曰: 「无上菩提,须得言下识自本心,见自本性,不生不灭;于一切时中,念念自见万法无滞,一真一切真,万境自如如。如如之心,即是真实。若如是见,即是无上菩提之自性也。」

Autoren: Mingqing Xu, Alexander Maurer
Übersetzung der Zitate: Mingqing Xu, Alexander Maurer
Lektoren: Pascal Hauser, Birgit Seissl, Ursula Presslauer



Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Podiumsutra

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