Dharmaschatz Podiumsutra d. 6. Ahnlehrers Kap. 1 (8): Ohne Gefühle gibt es keine Samen
— Begleitlektüre zum wöchentlichen Drei Schätze Retreat am 07.11.2019
Im letzten Blogbeitrag sprachen wir darüber, wie Huineng nachts im Gemach des Ahnlehrers Hongren bei dem Satz„ohne jegliche Anhaftung entsteht der Sinn“, aus dem Diamant-Sutra, das große Erwachen erfuhr. Solche plötzlichen Durchbrüche bezeichnet man im Chan-Buddhismus als das „plötzliche Erwachen“, im Unterschied zur „Schule der allmählichen Kultivierung“, wo man durch Übung Schritt und Schritt seine Blockaden abbaut und sich dem Zustand des Erwachens nähert. Bei der „Schule des plötzlichen Erwachens“ zielt man auf einen Durchbruch unabhängig von bestimmten Vorstufen oder Übungsstadien. An Huineng sehen wir: Er hat an keiner Übungsstunde teilgenommen und keine Schriften studiert. Auch hat er nicht die Sitzmeditation geübt. Von seinem ersten Durchbruch bis zum endgültigen Erwachen dauerte es nicht ganz zehn Monate. Später spricht Huineng davon, dass diese Lehre nur für Menschen mit besten karmischen Voraussetzungen geeignet ist. Wer diese nicht aufweist, ist bei der „Schule der allmählichen Kultivierung“ besser aufgehoben. Im späteren Verlauf leitet Huineng die Schule des „plötzlichen Erwachens“ im Süden des Landes und Shenxiu die „Schule der allmählichen Kultivierung“ in Norden Chinas. Allerdings war es Huineng, der als der Erbe des Dharmas in der Stammlinie des Chan-Buddhismus galt. Seine Ernennung erfolgte unmittelbar nach seinem Erwachen im Gemach des 5. Ahnlehrers. Es folgte nun der formale Akt: der Ahnlehrer überreichte Huineng die Robe und die Bettelschale, die ihn als Nachfolger in der Chan Linie auswiesen. Huineng erhielt die folgende Anweisung:
„Du bist (nun) der 6. Ahnlehrer. Hüte gut den Sinn, erlöse weit und breit die Fühlenden (Wesen); Sorge für die Verbreitung (des Dharmas) auch in der Zukunft, sodass es keinen Abbruch erleiden wird.[i]
Betrachten wir nun Hongrens Rede im Detail:
Mit dem einfachen Satz „Du bist (nun) der 6. Ahnlehrer.“ ist Huineng nun zum Ahnlehrer ernannt, was eine wesentliche Wandlung der chinesischen Kultur eingeleitet hat. Wenn wir an die vielen Chan-Meister aus Huinengs Linie denken, die die kulturelle Landschaft von ganz Ostasien geprägt haben, sehen wir in diesem Moment, zur Mitternacht im Dongchan Kloster, so etwas wie ein kulturelles „Erdbeben“: Huineng bildete die Grundlage für eine genuin chinesische Form des Buddhismus, die in weiterer Folge die Vereinigung des Buddhismus mit Konfuzianismus und Daoismus ermöglichte. In der Geschichte passiert es schließlich immer wieder, dass kurze Momente und Taten einzelner Menschen das Schicksal ganzer Nationen und Kulturen in neue Bahnen lenkten.
Was hier mit „Hüte gut den Sinn“ übersetzt wurde, kann auch „Hüte gut die Gedanken“ bedeuten. Hongren macht damit eigentlich schon klar, dass es bei der Lehre nicht darum geht, nach Gedankenlosigkeit zu streben. Im späteren Verlauf zeigt es sich auch, dass Schulen, die sich an der Gedankenlosigkeit anhaften, immer wieder von Huineng kritisiert wurde.
„Fühlende Wesen“ ist ein Begriff, der sehr weit reicht und alle Lebewesen meint, die fühlen, wahrnehmen, Absichten und Neigungen hegen und Bewusstsein bilden können. Im Buddhismus spricht man von Sechs Daseinsbereichen: „göttliche“ Himmelswelten, „dämonische“ Daseinsbereiche, die Menschenwelt , das Tierreich, der Bereich der Hungernden Geister, die Höllenreiche. Wir gehen davon aus, dass hier vor allem die Menschen gemeint sind, welche Huineng weit und breit erlösen soll. Diese Anweisung ist aussergewöhnlich: In den Aufzeichnungen über die Stammlinie des Chan-Buddhismus sprachen die vergangenen Ahnlehrer zwar auch davon, die Linie zu keinem Abbruch kommen zu lassen, aber keiner sprach von einer weiten Verbreitung. Sonst ging es immer nur um die Übermittlung von einer Person zu einer Person. Tatsächlich traten nach Huineng zahlreiche Meister auf, die von sich behaupten, das Dharma von Huineng erlangt zu haben, und es entwickelten sich mehrere Linien.
In den Aufzeichnungen findet man für jeden Dharma-Nachfolger ein Gedicht vom übergebenden Ahnlehrer, welches die Essenz der Lehre beschreibt. Genauso hat auch der 5. Ahnlehrer ein Gedicht an Huineng wie folgt gegeben:
Höre meine Verse:
Säht man mit Gefühlen die Samen,
wachsen aus jener Erde die Früchte;
Ohne Gefühle gibt es keine Samen,
somit auch kein Wesen und keine Geburt.[ii]
Befassen wir uns zum Verständnis dieser Verse einmal mit dem Konzept von Ursache und Wirkung, bekannt als Karma. Demnach bringt jede Handlung (oder Tatabsicht), egal ob sie mental, verbal oder körperlich vollzogen wird, unweigerlich Konsequenzen mit sich. Man erntet was man säht. Diese Folgen müssen nicht im gegenwärtigen Leben wirksam werden, sondern vor allem gestalten Sie das zukünftige Leben in einem der oben erwähnten sechs Daseinsbereiche. Jedoch ist keines dieses weitere Leben die Endstation. Diese „Samen-sähenden“ Handlungen (Karma bedeutet wörtlich Handlung) resultieren aus dem Anhaften des Geistes an die formhaften Erscheinungen und dem dadurch entstandenen sinnlichen Begehren. Dieses Anhaften kommt zustande, weil man sein verspürtes Ego als real, als „das Ich“ betrachtet und damit alle von diesem „Ich“ wahrgenommene Erscheinungen als real sieht und Neigungen und Abneigungen gegen diese hegt. Dieser Prozess ist das, was der Ahnlehrer Hongren mit seinen Versen „Säht man mit Gefühlen die Samen, wachsen aus jener Erde die Früchte“ beschrieb. „Mit Gefühlen“ kann auch die Bedeutungen „mit Willen, Absicht, Neigung und/oder Bewusstsein“ umfassen. Ein anderes gängiges Wort mit gleich klingender Bedeutung im chinesischen Buddhismus, das dem Daoismus entlehnt wurde, ist das „You-Wei 有为“, also wörtlich „Mit-Tun“. Das Gegenteil dazu wäre das Wort „Wu-Wei 无为“, also wörtlich „Nichts-Tun“ oder „Ohne-Tun“. Im Kontext von Ahnlehrer Hongrens Rede weist es daraufhin, dass Karma erst zustande kommt, wenn „Mit-Tun“ gehandelt wird, sprich „mit Absicht, Willen, Neigung und/oder Bewusstsein“. Der 3. und 4. Vers deuten nun auf das Gegenteil bzw. auf die Lösung des Problems hin: wenn man „ohne Gefühl“ handelt, dann gibt es keine Samen, somit auch kein Karma. Das ist deshalb möglich, weil die Handlung auf keiner Vorstellung von einem „Ich“ basiert und somit zu keiner Geburt/keinem Entstehen führt, da es ja keine Samen, also kein Karma, gibt.
Im ganzen Kapitel ging es um die Differenz in der Erkenntnis von Shenxiu und von Huineng. Mit diesem Gedicht hat Hongren die zwei Praxiswege zusammenfasst gegenübergestellt. Die ersten zwei Verse stellen den Praxisweg von Shenxiu dar, die letzten zwei Verse den von Huineng. Erinnern wir uns an Shenxius Erfahrung: Er betrachtet seinen Körper als den Bodhibaum und seinen Geist als einen Spiegel. Stets bemüht, den „Baum“ edel und den „Spiegel“ staubfrei zu halten. Obwohl er dadurch das sinnliche Begehren zähmt und die Bildung von Karma vermeidet, haftet er als ein „Ich“ an der „Leerheit“, somit an neuer Neigung und Abneigung an und prägt dieses „Ich“ wieder ins Bewusstsein. Er erlöst sich dadurch nicht vom Kreislauf von Ursache und Wirkung. Er säht weiterhin mit „Gefühlen“, und „aus jener Erde“, in welche er die Samen säht, werden weitere „Früchte“ wachsen. Man kann wohl gute Samen für gute Konsequenzen sähen, aber auch die beste Konsequenz, ein Dasein als Himmelswesen, erlöst einen nicht vom Samsara. Das glückliche, lange Leben als Himmelswesen korrumpiert nur die Sinne und bewirkt Vergessen. (Wer geniesst vergisst, sagt Faust bei Goethe). In behaglicher Gedankenlosigkeit verbrauchen die Himmelswesen nur ihre gute Karmafrucht, und der samsarische Kreislauf beginnt wieder einmal von vorne…
Vergleiche nun die letzten zwei Verse mit dem Übungsweg von Huineng: Er bezeichnet seinen Geist als „ursprünglich ohne Ding“ und „kein Staub“ kann sich dran „haften“. Somit erkennt er, dass das gefühlte „Ich“ nicht existiert und die Natur stets „Ohne-Tun“ wirkt und als wesenlos zu erkennen ist. Indem es kein Subjekt gibt, das „Willen, Absicht, Neigung oder Bewusstsein“ hegt, kann auch kein Karma produziert werden. Somit gibt es auch keine Samen, die gesät werden können. Wenn keine Früchte wachsen gibt es auch keine „Geburt“.
Im weiteren Verlauf der Geschichte verbreitete Shenxiu im Norden des Landes die Schule der „allmählichen Kultivierung“ und wurde geachtet und respektiert. Huineng konnte erst mehr als Jahrzehnt später langsam anfangen, seine Schule des „plötzlichen Erwachens“, im fernen Süden des Landes, in kleinen Kreisen, aufzubauen. Es war sicherlich nicht einfach, sich gegen den starken Einfluss von Shenxius Schule durchzusetzen. Hongren wusste, dass es für Huineng sehr schwierig werden wird. Deshalb legt er ihm ans Herz, auf keinem Fall voreilig „mit Gefühl“, sprich „Mit-Tun“, zu handeln, sondern das „Nichts-Tun“ zu üben und warten, bis die Zeit reif wird. Dazu gab er Huineng eine weitere Anweisung:
„Als einst der Großmeister Bodhidharma in diesem Land angekommen war, glaubte niemand an ihn. Deshalb überreichte er diese Robe als Beweismittel, zur Weitergabe von Generation an Generation. Das Dharma, von Herz zu Herz übermittelt, lässt alle selbst zum Erwachen, zur Erlösung gelangen. Seit jeher wurde von Buddha zu Buddha das ursprüngliche Wesen vermittelt, von Lehrer zu Lehrer der ursprüngliche Sinn übertragen. Die Robe führt zu Konflikten, daher gib diese zukünftig nicht mehr weiter. Wenn man diese weiter überträgt, hängt das Leben (seines Besitzers) an einem dünnen Faden. Du muss sofort hier weg. Ich fürchte sonst, andere würden dir schaden.“ [iii]
Bodhidharma (382 (?) – ~ 535 n. Chr.) gilt als der 28. Ahnlehrer auf indischem und als der erste auf chinesischem Boden. Er ist der Urvater des chinesischen Chan-Buddhismus. Es war für ihn äußerst schwierig, einen geeigneten Nachfolger für seine Lehre in China zu finden. Er übergab daher Robe und Bettelschale als Beweismittel für die Authentizität seiner Lehre an seinen Nachfolger. (Manche Quellen sprechen nur von der Robe und nicht von einer Schale.) Beide Gegenstände sollen sogar persönliche Gegenstände des historischen Buddha gewesen sein, welche er an seinen Schüler und 1. Ahnlehrer des Chan, Mahakasyapa, übergeben hat. Nachdem nach Huineng das Dharma nicht mehr nur an eine Person übermittel wird, ist somit eine Weitergabe dieser Beweismittel nicht mehr zweckmäßig und würden nur zu Konflikten führen. Man weiss heute nicht mehr, was aus diesen beiden Gegenständen geworden ist. Es sind durchaus viele persönliche Gegenstände Huinengs bis heute erhalten, allerdings nicht diese oben beschriebene Robe und Schale. Diese wurden in unterschiedlichen Quellen erwähnt und dürften somit keine Erfindung sein. Auf alle Fälle hat keiner der Schüler von Huineng behauptet, im Besitz dieser Gegenstände zu sein. Alle von Huineng ausgehenden fünf Linien bestehen jedenfalls darauf, das wahre Dharma übermittelt bekommen zu haben.
Hongren hat geahnt, dass die Übermittlung dieser Robe große Gefahr mit sich bringt. Quellen berichten, dass diese Robe schon zu seinen Zeiten drei Mal gestohlen wurde! Obwohl er sie jedes Mal wieder zurück bekommen konnte, ist er sich dessen bewusst, dass viele Menschen es auf diese Robe abgesehen haben. Also wies er Huineng an, rasch in den Süden zu flüchten: einerseits ist der Süden die Heimat Huinengs, er kennt sich dort gut aus. Andererseits ist der Norden das Einflussgebiet von Shenxiu. Huineng soll sich vorerst versteckt halten, da er ansonsten große Schwierigkeiten haben wird. Diese Prognose lässt sich im weiteren Verlauf der Geschichte bestätigen. Welche Schwierigkeiten Huineng haben wird, das besprechen wir im nächsten Retreat.
[i] 三更受法,人尽不知。便传顿教及衣钵,云:“汝为第六代祖,善自护念,广度有情,流布将来,无令断绝。……”
sān gèng shòu fǎ ,rén jìn bù zhī 。biàn chuán dùn jiāo jí yī bō ,yún :“rǔ wéi dì liù dài zǔ ,shàn zì hù niàn ,guǎng dù yǒu qíng ,liú bù jiāng lái ,wú lìng duàn jué 。
[ii] “……听吾偈曰:有情来下种,因地果还生。无情亦无种,无性亦无生。”
tīng wú jì yuē :yǒu qíng lái xià zhǒng ,yīn dì guǒ hái shēng 。wú qíng yì wú zhǒng ,wú xìng yì wú shēng 。”
[iii] 祖复曰:“昔达摩大师,初来此土,人未之信,故传此衣,以为信体,代代相承,法则以心传心,皆令自悟自解。亘古佛佛惟传本体,师师密付本心。衣为争端,止汝勿传,若传此衣,命如悬丝。汝须速去,恐人害汝。”
zǔ fù yuē :“xī dá mó dà shī ,chū lái cǐ tǔ ,rén wèi zhī xìn ,gù chuán cǐ yī ,yǐ wéi xìn tǐ ,dài dài xiàng chéng ,fǎ zé yǐ xīn chuán xīn ,jiē lìng zì wù zì jiě 。gèn gǔ fó fó wéi chuán běn tǐ ,shī shī mì fù běn xīn 。yī wéi zhēng duān ,zhǐ rǔ wù chuán ,ruò chuán cǐ yī ,mìng rú xuán sī 。rǔ xū sù qù ,kǒng rén hài rǔ 。”
<– Dharmaschatz Podiumsutra d. 6. Ahnlehrers (Kap. 1-7)
Dharmaschatz Podiumsutra d. 6. Ahnlehrers (Kap. 1-9) –>
Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Podiumsutra 六祖坛经
Kommentar verfassen