Bodhiruci, das Samdhi-Nirmocana-Sutra und die Nur-Bewusstsein-Schule

Beitragsreihe: Wie kam der Buddhismus nach China?

Kap. 1: Die Anfänge der chinesischen Philosophien und Religionen

Kap. 2: Die Durchsetzung des Buddhismus in der Wei- und Jin-Zeit (220-420 n. Chr.)

Kap. 3: Die Ausgestaltung des chinesischen Buddhismus in den Nord-Süd-Dynastien (420-589 n. chr.)

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Teil 7: Bodhiruci, das Samdhi-Nirmocana-Sutra und die Nur-Bewusstsein-Schule

Eingehende Erklärungen zur Eigenschaft und Wirkweise der Buddhaessenz findet man in jenen Schriften, auf welche auch die Nur-Bewusstsein-Schule basiert. Deshalb wird, wie schon einst erwähnt, die Buddhaessenz-Lehre zumeist nicht als eigenständige Schule gesehen, sondern als ein Teil der Nur-Bewusstsein-Schule. Eine der ältesten klassischen Schriften der Nur-Bewusstsein-Schule ist das Samdhi-Nirmocana-Sutra 解深密经 jie shen mi jing. Samdhi-Nirmocana bedeutet „die Aufschlüsselung des tiefen Geheimnisses“. Das Sanskrit-Original des Werkes ist verloren gegangen, aber chinesische und tibetische Übersetzungen sind überliefert. Es gibt insgesamt vier chinesische Übersetzungen dieser Schrift, von denen

  • eine von Gunabhadra 求那跋陀羅 (394-468 n. Chr.) während der südlichen Song-Dynastie,
  • eine von Bodhiruci 菩提流支 (?-?535 n. Chr.) während der nördlichen Wei-Dynastie,
  • eine von Paramartha 真諦 (499-569 n. Chr.) während der südlichen Chen-Dynastie und
  • eine von Xuanzang 玄奘 (602-664 n. Chr.) während der Tang-Dynastie

übersetzt wurde. Die Übersetzungen von Paramartha und Gunabhadra decken nur einen Teil des ursprünglichen Textes ab. Tatsächlich gibt es nur zwei vollständige chinesische Übersetzungen, nämlich die von Bodhiruci und Xuanzang. Diese beiden Übersetzungen sind am bekanntesten und einflussreichsten.

Bodhiruci stammte aus Nordindien und war einer der berühmtesten Übersetzer von buddhistischen Schriften während der Zeit Nord-Süd-Dynastien. Laut dem Vorwort zur vom Bodhiruci übersetzten Version des Samdhi-Nirmocana-Sutra, welches vom Mönch Tanning 昙宁 aus der nördlichen Wei-Dynastie verfasst wurde, begann Bodhiruci im Jahr 533 n. Chr. mit dieser wichtigen Übersetzungsarbeit. Historischen Quellen zufolge war Bodhiruci sehr gelehrt und weit fortgeschritten in der buddhistischen Praxis. Er erhielt hohe Wertschätzung vom Kaiser Xiaowu der nördlichen Wei-Dynastie. Der Kaiser befürwortete nicht nur die Übersetzungsarbeit von Bodhiruci, sondern war auch direkt am gesamten Übersetzungsprozess beteiligt. Außer ihm nahmen auch berühmte Mönche wie Huiguang und Tanning an der Übersetzungsarbeit teil. Nach Abschluss des ersten Entwurfs überarbeiteten und überprüften sie diesen mehrfach, um ihn zu vervollkommnen. Nachdem der endgültige Entwurf fertiggestellt war, hielt Bodhiruci eine Vorlesung über seine neue Übersetzung im Yongning-Tempel ab, an der mehr als 30 bekannte Mönche und Laien teilnahmen. Der Kaiser war auch mehrmals anwesend, um seine Wertschätzung zu zeigen. Tanning lobte die Szene und sagte:

„Die Feierlichkeiten waren grandios, und die Lehren wurden dreimal wiederholt. Die Schüler wurden durch und durch inspiriert und folgten ihm auf Schritt und Tritt. Dadurch wurde das tiefe Geheimnis des Schatzhauses weit bekannt gemacht, und die wunderbare Bedeutung der Befreiung wird für alle Ewigkeit weiterfließen.“[1]

Mit der Übersetzung und Lehre des „Sutras zur Aufschlüsselung des tiefen Geheimnisses“ durch Bodhiruci in der Nord-Wei-Dynastie entstand tatsächlich eine Welle des Studiums der Nur-Bewusstsein-Lehre 唯识学 wei shi xue in China. Die Übersetzung und Erforschungen von Bodhiruci und seinen Schülern legten den Grundstein für das Verständnis dieser Schule in China. Das Samdhi-Nirmocana-Sutra ist eines der klassischen Werke, auf die sich diese Schule stützt und bietet die früheste systematische Darstellung ihrer Lehre. Es hatte nicht nur einen direkten und wichtigen Einfluss auf die Etablierung der Nur-Bewusstsein-Schule, sondern stellte auch eine tiefgreifende Anregung und Herausforderung für die Denktradition des chinesischen Buddhismus dar.

Wir stützen uns auf die Übersetzung von Bodhiruci und ziehen bei Bedarf die Übersetzung von Xuanzang vergleichend hinzu. Das Sutra handelt von einer Versammlung um den Bhagavat, sprich: den Erhabenen, in einem mystischen Reich, nämlich das Dharma-Dhatu des Tathagata. Es beginnt wie folgt:

So habe ich gehört: Eines Tages befand sich der Erhabene im Palast des Dharma-Reiches (Dharmadhatu) und verweilte am Ort des Zustandes des Tathagata. Dies war der Ort, der mit allen Schätzen und Juwelen geschmückt und höchst würdig war. Dieser Ort erstreckte sich über unzählige Welten und strahlte ein großes Licht aus, das alles erhellte. Es war ein grenzloser Ort des [uneingeschränkten Wissens zur] unendlichen geschickten Differenzierungen. Es war der Ort, an dem die höchsten heilsamen Grundlagen aller drei Daseinsbereichen übertroffen und verwirklicht wurden, und an dem man die klare, reine, gelassene Erlösung und Befreiung von allen Hindernissen erreichen konnte. Dies war der Ort, welcher von den göttlichen Kräften aller Buddhas aufrechterhalten wurde und an dem unzählige Bodhisattvas praktizierten. […][2]

Das Zitat oben stellt nur einen Bruchteil der insgesamt 18 Beschreibungen der wundervollen Merkmalen des Dharma-Reiches des Thatagata dar. Es ist nicht selten, dass in manchen Sutren der Erhabene, also Buddha Gautama, sich in himmlische Welten begibt und die Wesen dort belehrt. Dieser im obigen Zitat beschriebene Ort soll der durch die Verdienste oder den Zustand der Buddhas verwirklichte oder manifestierte Bereich sein. Diese im Buddhismus dargestellten mystischen Welten werden immer im Zusammenhang mit dem geistigen Zustand der sich dort aufhaltenden Wesen dargestellt. Dies führt zur Diskussion, ob diese Welten nicht lediglich als geistige Manifestationen und nicht als  reale materielle Welten zu sehen sind. Wenn man sich die Beschreibung „Dieser Ort erstreckte sich über unzählige Welten“ anschaut, dann existiert dieser Ort also auch in allen anderen Welten. Somit ist der Begriff „Ort“ hier nicht notwendigerweise als „Raum“ zu verstehen, sondern eher als „Zustand“ oder „Stadium“. Aus dieser Sicht hängen all diese Erscheinungen, sei es materiell, feinstofflich oder mental, von den geistigen Zuständen ab. Dabei ist es nicht angebracht, sich an bestimmte feste Vorstellungen zu fixieren. Wichtig ist es zu verstehen, welcher Zustand dieses Reich repräsentiert und welche Lehre hilfreich ist, um diesen Zustand zu verwirklichen. Nach dieser mystischen Einleitung geht das Sutra zum philosophischen Hauptteil, der „tiefen, geheimen Lehre des Herz-Geistes und des Bewusstseins“, über.

–> Fortsetzung: Teil 8: Das Samdhi-Nirmocana-Sutra über die wahre Natur des Nur-Bewusstseins


[1] 法事隆盛,一言三覆,慕盡窮微,是使深密祕藏光宣於景運,解脫妙義永流於遐劫——《深密解脫經序 沙門都釋曇寧造》

[2] 如是我聞。一時婆伽婆。住法界殿如來境界處。眾寶赫焰一切莊嚴第一之處。遍至無量諸世界處。放大光明普照之處。無量善巧差別住處。無有分齊,過分齊處。過諸一切三界境界出世間上上善根境界成就之處。善得清淨自在解脫無礙之處。諸佛如來神力住持之處。無量菩薩眾所行處。——《深密解脫經卷第一 序品第一》北魏菩提流支译; 如是我聞。一時薄伽梵。住最勝光曜七寶莊嚴。放大光明普照一切無邊世界無量方所。妙飾間列周圓無際。其量難測超過三界。所行之處勝出世間。善根所起最極自在。淨識為相如來所都。諸大菩薩眾所雲集。——《解深密經卷第一 序品第一》大唐三藏法師玄奘奉詔譯


(Mit Korrekturen von Ursula Presslauer, Birgit Seissl, Jörg Hollenstein und Alexander Maurer)




Kategorien:Buddhismus China, Samdhi-Nirmocana-Sutra 解深密经

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