Das Srimala Sutra über die Buddhaessenz als ein unbedingtes Phänomen

Beitragsreihe: Wie kam der Buddhismus nach China?

Kap. 1: Die Anfänge der chinesischen Philosophien und Religionen

Kap. 2: Die Durchsetzung des Buddhismus in der Wei- und Jin-Zeit (220-420 n. Chr.)

Kap. 3: Die Ausgestaltung des chinesischen Buddhismus in den Nord-Süd-Dynastien (420-589 n. chr.)

Link zu vorherigen Beiträgen

Teil 5: Das Srimala Sutra über die Buddhaessenz als ein unbedingtes Phänomen

Ein weiteres Sutra, welches explizit von der Buddhaessenz spricht, ist das Srimala Sutra 胜鬘经 sheng man jing. Es gibt davon drei chinesische Übersetzungen. Am bekanntesten ist jene von Gunabhadra 求那跋陀羅 (394-468 n. Chr.). Das Sutra berichtet vom Aufenthalt Buddha Gautamas im Jeta-Hain (Jetavanavihara) in Savatti, der Hauptstadt des Königreichs Kosala in Nordindien. Der Hain wurde vom reichen Kaufmann Anathapindada gekauft, und an die Gemeinschaft gespendet. Dort fanden zahlreiche Lehrreden Buddha Gautamas statt. Das Sutra handelt vom Gespräch zwischen ihm und Srimala, der Tochter König Prasenajits und seiner Ehefrau Königin Mallika, über die Buddhaessenz.

Buddha Gautama ermächtigte Srimala in diesem Sutra als Vortragende aufzutreten, pries ihre Weisheit und bestätigte ihre Errungenschaften. Dieses Sutra hat eine besondere Stellung im Buddhismus, ähnlich dem Vimalakirti Sutra, in dem ein Laie als Lehrender auftritt. Hier jedoch wird eine Frau als Lehrende anerkannt. Einige Zitate aus dem Sutra sollen einen ersten Eindruck verschaffen:

Die Buddhaessenz ist der Zustand des Tathagata. Dieser kann nicht von den Hörern und Einzelerwachten erkundet werden. Bei der Buddhaessenz ist die Rede vom Sinn der edlen Wahrheit. Die Buddhaessenz ist äußerst tiefgründig, daher ist der Sinn der edlen Wahrheit auch äußerst tiefgründig. Dieser ist fein und schwer zu erkunden. Dieser ist ein unvorstellbarer Zustand und kann nur durch die Weisen erkundet werden. Alle gewöhnlichen (ungläubigen) Wesen können nicht [an die Buddhaessenz] glauben.[1]

Diese Unterscheidung zwischen dem Weg der Hörer und Einzelerwachten als kleines Fahrzeug sowie dem Weg zum Buddhatum als großes Fahrzeug ist ein typisches Merkmal der Mahayana-Schriften, das bereits in früheren Beiträgen mehrfach behandelt wurde. Der Unterschied liegt in ihrer Sichtweise, ihrem Wissen und ihrer Weisheit. Die Buddhaessenz-Lehre sieht die Erkenntnis der Buddhaessenz als maßgeblich für das große Fahrzeug an. Wesentlich ist es, sich zu verinnerlichen, dass die Buddhaessenz frei von bedingten Merkmalen und ohne Entstehen und Vergehen ist:

Die Buddhaessenz ist frei von bedingten Merkmalen, beständig und unveränderlich. Deshalb ist die Buddhaessenz die Zuflucht, Aufrechterhaltung und Etablierung [aller Wesen und Phänomene]. Dies ist die unvorstellbare Buddhalehre, die sich nicht entfernt, nicht trennt, nicht loslöst und nicht unterscheidet [von allen Phänomenen]. Alle trennbare, lösbare, unterscheidbare bedingte Phänomene hängen von ihr ab und werden dank ihr aufrechterhalten und etabliert. Dies ist die Buddhaessenz.[2]

Bedingte und unbedingte Phänomene sich wichtige Begriffe des Mahayana Buddhismus. Im diesem Sutra werden sie unter anderem im Zusammenhang mit den „vier edlen Wahrheiten“ erläutert, sprich: die Wahrheit über 1. das Leiden 2. die Entstehung 3. das Erlöschen und 4. den Pfad zum Erlöschen des Leidens:

Von den vier edlen Wahrheiten sind drei vergänglich und eine ist beständig. Warum ist das so? Die drei Wahrheiten beziehen sich auf bedingte Phänomene. Das Merkmal bedingter Phänomene ist ihre Unbeständigkeit. Alles, was unbeständig ist, sind illusorische Phänomene, die nicht wahr, nicht beständig und keine Zuflucht sind. Daher sind die Wahrheiten über das Leiden, die Entstehung des Leidens und den Pfad nicht die ultimative Wahrheit. Sie sind weder beständig noch dauerhaft.

Die Wahrheit über das Erlöschen (Nirvana) ist jedoch frei von bedingten Phänomenen. Ihr Merkmal ist die Beständigkeit. Alles, was beständig ist, sind keine illusorischen Phänomene, die wahr, beständig und die Zuflucht sind. Daher ist die Wahrheit über das Erlöschen die ultimative Wahrheit. Sie ist unvorstellbar und kann nicht von gewöhnlichen Wesen erfasst werden. Sie geht auch über das Wissen aller Hörer und Einzelerwachten hinaus.[3]

Im Sutra wird beschrieben, warum die Hörer und Einzelerwachten den Zustand der Buddhaessenz nicht erfassen können. Die Argumente beziehen sich auf die unterschiedlichen Entwicklungsstadien zwischen ihnen, den Bodhisattvas und dem Buddha. Dies ist ein umfassendes Thema, das wir später bei anderen Sutren behandeln werden. In diesem Sutra wird noch erwähnt, dass die Hörer und Einzelerwachten nicht den Zustand des Parinirvana erreicht haben, welchen nur die Buddhas verwirklichen können. Dabei spielt unter anderem die rechte Sicht eine Rolle, die in Bezug auf die Buddhaessenz folgendermaßen erläutert wird:

Jene Wesen mit verkehrter Sicht betrachten die Ansammlung der fünf Daseinsfaktoren (Skandhas) als unbeständig oder beständig, leidhaft oder glückselig, ich-los oder ich, unrein oder rein. Die Hörer und Einzelerwachten erkennen nicht den Zustand der allumfassenden Weisheit und den Dharmakörper des Tathagata. Aber jene Wesen, die im Vertrauen auf die Worte des Buddha den Dharmakörper des Tathagata als beständig, glückselig, Ich und rein sehen, hegen keine verkehrte Sicht. Dies wird als rechte Sicht bezeichnet. Warum? Der Dharmakörper des Tathagata ist die Fähre (Paramita) der Unbeständigkeit, Glückseligkeit, des Ichs und der Reinheit. Wer den Dharmakörper des Buddha auf diese Weise betrachtet, wird als jemand mit rechter Sicht bezeichnet. [4]

Der Dharmakörper wird hier als Synonym für die Buddhaessenz oder Buddhanatur bezeichnet. Die Aussage über Beständigkeit, Glückseligkeit, Ich und Reinheit entspricht der im Mahaparinirvana Sutra. Allerdings wird hier klargestellt, dass die fünf Ansammlungen (Form, Empfindung, Wahrnehmung, Gestaltung und Bewusstsein) weder als unbeständig noch als beständig betrachtet werden können. Wer sie als unbeständig betrachtet, verfällt in den Nichtigkeitsglauben. Umgekehrt sind sie selbst bei Nirvana nicht beständig, da sie einem ständigen Entstehen und Vergehen unterworfen sind. Einzig die ihnen zugrundeliegende Buddhaessenz ist beständig, da sie leer ohne Eigenwesen ist und nicht entsteht und vergeht. Der folgende Satz klingt allerdings widersprüchlich zur vorherigen Aussage:

Die Buddhaessenz ist kein Ich, kein Wesen, kein Schicksal und keine Person. [5]

Wie ist der Widerspruch zwischen dem „Ich“ hier und jenem vom vorherigen Zitat zu verstehen? Das „Ich“ vorher ist in Relation zum „Nicht-Ich“ der Hörer und Einzelerwachten zu betrachten und ist daher nur der Gegenpol eines Begriffspaares bzw. einer gegensätzlichen Betrachtung. Mit dem „Nicht-Ich“ sind alle bedingte Phänomene gemeint, die unbeständig sind – das „Ich“ als Gegenpol dazu ist das bedingte Phänomen, das zwar als dauerhaft zu verstehen ist, aber nicht jenseits oder unabhängig vom „Nicht-Ich“ existiert. Es bezieht sich auf den Zustand des Tathagata, und nicht auf eine eigenständige, bedingte Existenz. Mit dem „Ich“ im letzten Zitat ist eine eigenständige Existenz, wie ein Mensch oder eine Person, gemeint, das jenseits von allen Wesen separat existieren sollte. Wie schon beim Mahaparinirvana Sutra erwähnt, ist die Buddhaessenz ein unbedingtes Phänomen, welches durch die bedingten Phänomene in Erscheinung tritt. Sie ist somit nicht als eine eigenständige Existenz neben den bedingten Phänomenen zu verstehen.

Wie ist der Widerspruch zwischen dem vorherigen Zitat und dem „Ich“ hier zu verstehen? Das vorherige „Ich“ ist im Verhältnis zum „Nicht-Ich“ der Hörer und Einzelerwachten zu betrachten und ist daher lediglich der Gegenpol eines Begriffspaares bzw. einer gegensätzlichen Betrachtung. Mit dem „Nicht-Ich“ sind alle bedingten Phänomene gemeint, die unbeständig sind – das „Ich“ als Gegenpol dazu bezeichnet das bedingte Phänomen, das zwar als dauerhaft zu verstehen ist, aber nicht jenseits oder unabhängig vom „Nicht-Ich“ existiert. Es bezieht sich auf den Zustand des Tathagata und nicht auf eine eigenständige, bedingte Existenz. Das „Ich“ im letzten Zitat hingegen meint eine eigenständige Existenz wie eine Person, die jenseits von allen Wesen separat existieren soll. Wie bereits im Mahaparinirvana Sutra erwähnt, ist die Buddhaessenz ein unbedingtes Phänomen, das durch die bedingten Phänomene in Erscheinung tritt. Sie ist somit nicht als eigenständige Existenz neben den bedingten Phänomenen zu verstehen.

Viele andere Übersetzer übersetzen dieses „Ich“ als „Selbst“. Es stammt aus dem Sanskrit-Wort „Atman“, einem Begriff aus der indischen Philosophie, und bezeichnet das Selbst, die unzerstörbare, ewige Essenz des Geistes und wird oft als „Seele“ übersetzt. Das „Nicht-Ich“ kann also auch im engeren Sinn als „Nicht-Selbst“ oder „Nicht-Seele“ übersetzt werden. Im weiteren Sinn bezieht sich das „Ich“ sinngemäß auf eine „beständige dauerhafte Existenz“. Im Sinne der Buddhaessenz, da es heißt, sie bringe ja alle Phänomene und Wesen hervor, kommt der Vergleich mit dem Schöpfergott, dem „Brahma“ in der indischen Philosophie in Frage. Allgemein kann also auch das „Nicht-Ich“ oder „Nicht-Selbst“ sowohl als „Nicht-Seele“ als auch als „Nicht-Gott“ verstanden werden. Hier wird die Buddhaessenz oder Buddhanatur als „Ich“ oder „Selbst“ betrachtet. Weist das etwa auf eine Seele als Selbst und einen Schöpfergott hin?

Wie bereits erwähnt, sollten buddhistische Konzepte nicht als feste Doktrin verstanden werden, sondern als Heilmittel gegen Krankheiten. In den Sutren heißt es, dass dieselbe „Medizin“ in bestimmten Fällen unheilsam sein kann, in anderen Fällen jedoch heilsam. Man muss also zuerst die Eigenschaften der gegebenen Krankheit tiefgründig kennen, um dann das passende Heilmittel zu finden. Dazu muss man sich gründlich mit der Beschaffenheit der Medizin auch auseinandersetzen, um die richtige Wahl zu treffen. In unserem Fall ist dieses „Ich“ oder „Selbst“ die Medizin. Wann ist es unheilsam, und wann ist es heilsam?

Ohne den Rahmen dieses Beitrags zu sprengen, beschränken wir uns auf die Aussagen der obigen zwei Zitate: Wenn man die fünf Ansammlungen als „Ich“ oder „Selbst“ betrachtet, ist es unheilsam; wenn man den Dharmakörper des Tathagata als „Ich“ oder „Selbst“ betrachtet, ist es heilsam. In Bezug auf das Thema des Beitrags: Es ist unheilsam, die bedingten Phänomene als „Ich“ oder „Selbst“ zu betrachten, aber heilsam, die unbedingten Phänomene als „Ich“ oder „Selbst“ zu betrachten. Unbedingte Phänomene sind leer ohne Eigenwesen, daher ist das „Ich“ oder „Selbst“ als leer ohne Eigenwesen zu betrachten. In diesem Sinne: Wenn die Vorstellung von „Seele“ oder „Schöpfergott“ mit Merkmalen der bedingten Phänomene (unbeständig) verbunden ist, dann können sie nicht als die ultimative Wahrheit gesehen werden. Die rechte Sicht ist in diesem Fall, diese als „Nicht-Ich“ oder „Nicht-Selbst“ zu betrachten. Verfällt man dabei in die Falle des Nihilismus und dem Vernichtungsglaube, dann hilft es auf die Buddhaessenz als „Ich“ und „Selbst“, sprich als unbedingtes Phänomen (beständig), zu vertrauen. Dieses „Ich“ oder „Selbst“ ist frei von bedingten Merkmalen und daher leer ohne Eigenwesen, denn jede Vorstellung von der Buddhaessenz als ein eigenständiges Wesen würde diese wiederum zu einem bedingten Phänomen machen. Eine solche Betrachtung soll daher frei von Vorstellungen und Anhaftungen sein. Daher geht es im Buddhismus nicht um die Beantwortung von Fragen wie „Gibt es eine Seele oder einen Gott?“ (was nicht wesentlich für die Buddhalehre ist), sondern um den Zustand des Geistes. Ausschlaggebend für den Geisteszustand ist die rechte Sicht, welche auf die Weisheit zurückzuführen ist. Was bedeutet die Weisheit in Bezug auf die Buddhaessenz?

–> Fortsetzung: Teil 6: Das Srimala Sutra über die Weisheit und Wirkung der Buddhaessenz


[1]如來藏者,是如來境界,非一切聲聞、緣覺所知。如來藏處,說聖諦義。如來藏處甚深故,說聖諦亦甚深,微細難知,非思量境界,是智者所知,一切世間所不能信。——《胜鬘狮子吼一乘大方便方广经》如來藏章第七

[2]如来藏者离有为相,如来藏常住不变,是故如来藏是依、是持、是建立。世尊!不離、不斷、不脫、不異、不思議佛法。世尊!斷脫異外有為法依持、建立者,是如來藏。——《胜鬘狮子吼一乘大方便方广经∙自性清淨章第十三》

[3] 世尊,此四圣谛,三是无常,一是常。何以故?三谛入有为相,入有为相者是无常,无常者是虚妄法,虚妄法者,非谛非常非依。是故苦谛、集谛、道谛,非第一义谛,非常非依。一苦灭谛离有为相,离有为相者是常,常者非虚妄法,非虚妄法者,是谛是常是依。是故灭谛,是第一义。不思议是灭谛,过一切众生心识所缘,亦非一切阿罗汉、辟支佛智慧境界。——《胜鬘狮子吼一乘大方便方广经∙一諦章第十》

[4]顛倒眾生,於五受陰,無常常想、苦有樂想、無我我想、不淨淨想。一切阿羅漢、辟支佛淨智者,於一切智境界及如來法身,本所不見。或有眾生,信佛語故,起常想、樂想、我想、淨想,非顛倒見,是名正見。何以故?如來法身是常波羅蜜、樂波羅蜜、我波羅蜜、淨波羅蜜。於佛法身,作是見者,是名正見。——《胜鬘狮子吼一乘大方便方广经∙顛倒真實章第十二》

[5] 世尊,如来藏者,非我、非众生、非命、非人。——《胜鬘狮子吼一乘大方便方广经∙自性清淨章第十三》



(Mit Korrekturen von Ursula Presslauer, Birgit Seissl, Jörg Hollenstein und Alexander Maurer)




Kategorien:Buddhismus China, Srimala Sutra 胜鬘经

Schlagwörter:, , , , , , , , , , ,

1 Antwort

Trackbacks

  1. Gunabhadras Übersetzungen zur Buddhaessenz-Lehre und das Angulimala Sutra – DER WEG DER EINHEIT

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das: