„Ich kann meinen Geist nicht finden“ – Das Koan über Bodhidharma und Huike

——Beitragsreihe: Die Koans zur Geschichte des Zen-Buddhismus

Im vorangegangenen Koan wurde die Übertragung des „Wahren-Dharma-Auge-Schatzes“ vom Buddha Gautama an Mahakassyapa beschrieben, was als der Beginn des Zen- oder Chan-Buddhismus angesehen wird. Diese „wahre Lehre“ wurde dann über 28 Generationen hinweg in Indien von einem Ahnlehrer zum nächsten weitergegeben, was etwa 1000 Jahre in Anspruch nahm. Der 28. Ahnlehrer namens Bodhidharma soll laut schriftlicher Überlieferung im Jahr 526 n. Chr. den Seeweg nach China genommen haben. Sein Lehrer, der 27. Ahnlehrer namens Prajnatara, soll prophezeit haben, dass er in Zhendan (dem damaligen Namen für China) würdige Anwärter für die große Lehre finden würde. Bodhidharma erreichte zunächst Südchina, im Gebiet der heutigen Provinz Guangdong, als das alte Kaiserreich bereits in ein Nord- und Südreich gespalten war. Der Kaiser des Südreiches zu dieser Zeit war für seine Unterstützung des Buddhismus bekannt und lud Bodhidharma sofort an den Kaiserhof ein. Dieses legendäre Treffen wurde vor allem durch das folgende Gespräch bekannt:

Der Kaiser fragte: „Ich habe mein ganzes Leben lang Klöster errichtet, Mönche ordiniert und Almosen sowie vegetarische/vegane Festmähler gespendet. Welchen Verdienst habe ich damit erlangt?“

Bodhidharma antwortete unmissverständlich: „Diese Taten sind wahrlich keine Verdienste.“

Verwundert fragte der Kaiser: „Warum nicht?“

Boddhidharma erklärte weiter: „Sie mögen zwar wie Früchte für Menschen und himmlische Wesen erscheinen, sind aber letztlich Ursachen für unvollkommene Karmafolgen. Sie gleichen Schatten, die an Formen haften und haben keine wahre Existenz.“

Der Kaiser war noch immer nicht zufrieden: „Was sind dann wahre Verdienste?“

Boddhidharma brachte das Ziel der Praxis prägnant auf den Punkt: „Wahre Verdienste sind rein, weise, wundersam und von Natur aus vollkommen leer und still im Wesen. Sie können nicht im weltlichen Sinne erlangt werden.“

Der Kaiser ließ nicht locker und fragte den barbarisch aussehenden, respektlosen Inder erneut: „Was ist dann der höchste Sinn der edlen Wahrheit?“

Bodhidharma antwortete: „In der Leerheit existiert kein Edles.“

Daraufhin fragte der Kaiser: „Wer sitzt dann mir gegenüber?“

Bodhidharma antwortete gelassen: „Kenne ich nicht.“ Doch der Kaiser verstand nicht.[1]

Der verärgerte Kaiser brach das Gespräch ab und entließ den Meister. Bodhidharma erkannte keinen geeigneten Schüler im Kaiser und reiste weiter ins Nordreich. Er ließ sich am Berg Songshan nieder, später berühmt durch das Shaolin-Kloster, und wartete auf seinen Nachfolger. In einer Höhle auf dem Berg meditierte er, sein Gesicht zur Wand gewandt. Eines Tages kam ein Mönch namens Shenguang zu ihm. Shenguang war ein gelehrter buddhistischer Mönch und hatte eine Vision, dass er zu Bodhidharma kommen sollte, um die wahre Lehre der Erlösung zu erhalten. Doch Bodhidharma meditierte nur und reagierte nicht auf ihn. Shenguang wartete geduldig, auch als es spät und dunkel wurde, und sogar als der Schnee knietief lag. Er stand regungslos da, in Erwartung des Meisters. Schließlich schien Bodhidharma ihn zu bemerken und fragte, was er hier suche. Shenguang war fast den Tränen nahe und bat den Meister, ihn zu belehren.

Der Meister sprach: „Die erhabene Lehre der Buddhas ist von unübertroffener Pracht. Sie erfordert unermüdliche Anstrengung über unzählige Zeitalter hinweg. Obwohl es eine herausfordernde Reise ist, kann sie bewältigt werden. Man muss das Unmögliche ertragen und das Schwierigste meistern. Doch wer mit einem schwachen Willen und einem leichtfertigen, überheblichen Herzen handelt, wird vergeblich nach der wahren Lehre suchen.“

Als Shenguang diese Worte hörte, griff er nach einem scharfen Messer und schnitt sich seinen linken Arm ab. Er legte ihn vor den Meister. Der Meister erkannte die Absicht dahinter und sagte:

„Als die Buddhas einst nach der Lehre suchten, achteten sie nicht auf ihren Körper. Indem du nun deinen Arm vor mir abschneidest, zeigt dies den Willen deiner Suche deutlich.“

Daraufhin gab der Meister ihm den neuen Mönchsnamen Huike, was ‚zureichende Weisheit‘ bedeutet.

Er fragte: „Kann ich vom Siegel der Lehren aller Buddhas hören?“

Der Meister erwiderte: „Das Siegel der Lehren aller Buddhas kann man nicht von [anderen] Menschen erhalten.“

Huike äußerte: „Mein Geist ist voller Unruhe. Ich bitte den Meister, ihn zu beruhigen.“

Der Meister antwortete: „Wenn du mir deinen Geist anvertraust, kann ich ihn beruhigen.“

Nach einer Weile sagte Huike: „Ich kann meinen Geist nicht finden.“

Daraufhin erwiderte der Meister: Dann habe ich wohl bereits deinen Geist beruhigt.[2]

Nach neun Jahren besann Bodhidharma nach Indien zurückzukehren. Inzwischen hat er bereits mehr Schüler um sich versammelt. Er ließ seine Schüler zu sich kommen und forderte sie auf, ihr Verständnis zum Ausdruck zu bringen.

Youdaofu sagte: Was ich sehe ist ohne Anhaftung an Worten und Schriften. Diese sind Mittel zum Zweck.“

Der Meister sagte: „Du hast meine Haut.“

Nizongchi sagte: Was ich heute begreife, gleicht dem Moment, als Ananda den Buddha der Unerschütterlichkeit erblickte. Es gibt dann nichts mehr zu sehen.“

Der Meister sagte: „Du hast mein Fleisch.“

Daoyu sagte: „Die vier Elemente (aus denen der Körper besteht) sind letztlich leer. Die fünf Ansammlungen (des Geistes) existieren nicht. Wohin ich auch blicke, gibt es nichts zu erlangen.“

Der Meister antwortete: „Du hast meinen Knochen.“

Zum Schluss verneigte sich Huike rituell und blieb stillstehen.

Der Meister sagte: „Du hast mein Knochenmark.“

Der Meister sprach zu Huike: „Einst übergab Buddha das ‘Wahre-Dharma-Auge’ an Mahakassyapa. Über Generationen wurde es mir anvertraut. Heute gebe ich es dir. Bewahre es sorgfältig. Als Bestätigung dieser Überlieferung übergebe ich dir meine Robe. Im Inneren wird das Dharma-Siegel übermittelt, um den wahren Geist zu bestätigen. Im Äußeren gebe ich dir die Robe als Zeichen der Übertragung. Die Nachkommen könnten Zweifel hegen, wie ein Mensch hierzulande die Lehre aus Indien erhalten und bestätigen kann. Du hast heute die Lehre und die Robe erhalten, aber du wirst später einen schwierigen Weg haben. Du kannst diese Robe zeigen und mein Gedicht zur Überlieferung der Lehre rezitieren, um zu beweisen und Hindernisse zu beseitigen. 200 Jahre nach meinem Tod darf diese Robe nicht mehr weitergegeben werden. Höre mein Gedicht:

In dieses Land ich trete ein,
die Lehre der Erlösung zu vermitteln, den Verblendeten.
Eine Blüte entfaltet fünf Blätter fein,
Früchte reifen, selbst herangetrieben.[3]

Schließlich gab Bodhidharma Huike noch das Lankavakarasutra als Lehrmaterial. Der Quelle zufolge sollte Bodhidharma dann in China verstorben sein. Huike führte ein schwieriges Leben. Der neue Kaiser im Nordreich unterdrückte den Buddhismus und verfolgte buddhistische Mönche. Huike musste sich bei einfachen Menschen im Volk verstecken. Dennoch lehrte er bei Gelegenheit, obwohl seine Lehre oft als Irrglaube angesehen wurde. Er lebte bis ins hohe Alter von 106 Jahren. Im nächsten Koan werden wir sehen, wie es zur Übertragung des Dharma an den 3. Ahnlehrer auf chinesischem Boden kam.

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[1]實梁普通七年(526)庚子歲。九月二十一日也。廣州刺史蕭昂。具禮迎供。表聞武帝。帝遣使齋詔迎請。以十月一日至金陵。帝問曰。朕即位以來。造寺寫經度僧。不可勝紀。有何功德。祖曰。竝無功德。帝曰。何以無功德。祖曰。此但人天小果有漏之因。如影隨形。雖有非實。帝曰。如何是真功德。祖曰。淨智妙圓。體自空寂。如是功德不以世求。帝又問。如何是聖諦第一義。祖曰。廓然無聖。帝曰。對朕者誰。祖曰不識。帝不悟。祖知機不契。是月十九日。潛回江北。《指月錄卷一 東土祖師 初祖菩提達摩大師》

[2] 十一月二十三日。屆洛陽。寓止嵩山少林寺。面壁而坐。終日默然。人莫之測。謂之壁觀婆羅門。有僧神光。久居伊洛。博覽群籍。善談玄理。每歎曰。孔老之教。禮術風規。莊易之書。未盡妙理。近聞達磨大士。住止少林。至人不遙。當造玄境。遂詣祖參承。祖常端坐面壁。莫聞誨勵。光自惟曰。昔人求道。敲骨取髓。刺血濟饑。布髮掩泥。投崖飼虎。古尚若此。我又何人。值大雪。光夜侍立。遲明積雪過膝。立愈恭。祖顧而憫之。問曰。汝久立雪中。當求何事。光悲淚曰。惟願和尚慈悲。開甘露門。廣度群品。祖曰。諸佛無上妙道。曠劫精勤。難行能行。非忍而忍。豈以小德小智輕心慢心。欲冀真乘。徒勞勤苦。光聞祖誨勵。潛取利刀。自斷左臂。置於祖前。祖知是法器。乃曰。諸佛最初求道。為法忘形。汝今斷臂吾前。求亦可在。祖遂因與易名曰慧可。乃曰。諸佛法印即得聞乎。祖曰。諸佛法印。匪從人得。可曰。我心未寧。乞師與安。祖曰。將心來與汝安可良久曰。覔心了不可得。祖曰。我與汝安心竟。“乃曰。諸佛法印即得聞乎。祖曰。諸佛法印。匪從人得。可曰。我心未寧。乞師與安。祖曰。將心來與汝安可良久曰。覔心了不可得。祖曰。我與汝安心竟。“ 《指月錄卷一 東土祖師 初祖菩提達摩大師》

[3] 越九年。欲返天竺。命門人曰。時將至矣。汝等盍言所得乎。有道副對曰。如我所見。不執文字。不離文字。而為道用。祖曰。汝得吾皮。尼總持曰。我今所解。如慶喜見阿閦佛國。一見更不再見。祖曰。汝得吾肉。道育曰。四大本空。五陰非有。而我見處。無一法可得。祖曰。汝得吾骨。最後慧可禮拜依位而立。祖曰。汝得吾髓。乃顧慧可而告之曰。昔如來以正法眼。付迦葉大士。展轉囑累而至於我。我今付汝。汝當護持。并授汝袈裟以為法信。各有所表。宜可知矣。可曰。請師指陳。祖曰。內傳法印以契證心。外付袈裟以定宗旨。後代澆薄。疑慮競生。云吾西天之人。言汝此方之子。馮何得法。以何證之。汝今受此衣法。却後難生。但出此衣并吾法偈。用以表明。其化無礙。至吾滅後二百年。衣止不傳。法周沙界。明道者多。行道者少。說理者多。通理者少。潛符密證千萬有餘。汝當闡揚。勿輕未悟。一念回機。便同本得。聽吾偈曰。吾本來茲土。傳法救迷情。一花開五葉。結果自然成。祖又曰。吾有楞伽經四卷。亦用付汝。即是如來心地要門。令諸眾生開示悟入。吾自到此。凡五度中毒。我甞自出而試之置石。石裂。緣吾本離南印。來此東土。見赤縣神州。有大乘氣象。遂踰海越漠。為法求人。際會未諧。如愚若訥。今得汝傳授。吾意已終。《指月錄卷一 東土祖師 初祖菩提達摩大師》



Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Koan/Gong-An

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