„Wer fesselt dich denn?“ – Koans über Sengcan, Daoxin und Hongren

——Beitragsreihe: Die Koans zur Geschichte des Zen-Buddhismus

Im vorausgegangenen Diskurs tauchten wir ein in die Übertragung der Zen-Dharmalinie von Bodhidharma (~440?-528? n. Chr.) auf Huike (487-593 n. Chr.), der als der zweite Ahnlehrer des Zen- oder Chan-Buddhismus auf chinesischem Boden verehrt wird. Er ist der 29. Ahnlehrer in dieser genealogischen Linie. Somit wurde der „Wahre-Dharma-Auge-Schatz“ von Indien nach China überbracht. Zu jener Zeit, im 6. Jahrhundert n. Chr., hatte der Buddhismus bereits seit rund 500 Jahren in China Fuß gefasst. Während sich der Buddhismus in Indien langsam in den Schatten begab, erlangte China zunehmend an Gewicht in der Verbreitung der buddhistischen Lehre. Die Übernahme der Führung einer indischen Traditionslinie, die sich als Hüter der rechten Lehre Buddhas ausgab, markierte eine allmähliche Verschiebung des Zentrums der buddhistischen Lehre hin zu China. Die Schule des Zen-Buddhismus jedoch entfaltete sich nur langsam und fand nicht sofort Anerkennung. Huike suchte zunächst nach einem würdigen Nachfolger, dem er Lehre und Robe übergeben konnte. Dann kam der Augenblick, auf den er gewartet hatte.

In den schriftlichen Aufzeichnungen findet sich wenig über die Herkunft des dritten Ahnlehrers. Die Erzählung entspinnt sich um jenen Tag, als Huike unerwarteten Besuch erhielt. Der Besucher war ein Mann in seinen Vierzigern, von einer schweren Hautkrankheit gezeichnet. Es scheint, dass diese Krankheit ihn stark plagte, denn er suchte beim Meister nach Erlösung:

„Meister, der Schüler ist schwer erkrankt und bittet um Erlösung von seiner Sünde.“

Im Buddhismus bezieht sich ‚Sünde‘ auf das Karma, sprich die Konsequenzen vergangener Handlungen, das nicht durch einen Gott oder Meister aufgelöst werden kann. Ich vermute daher, dass der Fragende wegen seines Leidens ein schweres Karma empfindet und demütig nach Linderung sucht. Huike antwortete:

„Gib mir deine Sünde, damit ich sie für dich erlöse.“

Nach einer Weile des Schweigens erwiderte der Schüler:

„Wenn ich nach meiner Sünde suche, kann ich sie nirgends finden.“

Daraufhin sagte der Lehrer:

„Dann habe ich dich bereits davon befreit.“

Dieses Koan erinnert an dasjenige von Huike und Bodhidharma, als Huike vergeblich nach seinem Geist suchte und Bodhidharma antwortete, dass dieser bereits zur Ruhe gebracht worden sei. Huike nahm den Mann als Schüler auf und verlieh ihm den Mönchsnamen Sengcan (?510-606 n. Chr.), was in etwa „der edle Mönch“ bedeutet. Seitdem begann seine Krankheit allmählich zu heilen. Nach zwei Jahren übergab Huike ihm den „Wahren-Dharma-Auge-Schatz“ sowie Bodhidharmas Robe, und somit wurde er zum dritten Ahnlehrer der chinesischen Zen- bzw. Chan-Linie ernannt. Huike wies ihn an, vorerst in Zurückgezogenheit zu verweilen und die Lehre nicht zu verbreiten, da ein düsteres Unheil das Land bedrohte. Tatsächlich folgte später eine politische Unterdrückung des Buddhismus in China. Mönche wurden verfolgt, Klöster beschlagnahmt, Buddhastatuen zerstört und buddhistische Schriften verbrannt. Dies war das zweite Mal, dass der Buddhismus in Ungnade bei den Machthabern fiel, seit er in China Einzug gehalten hatte. (Mehr dazu siehe Beitrag „Auf und ab: der Buddhismus zwischen politischen Unterdrückungen und Förderungen“) [1]

Sengcan verbrachte mehr als ein Jahrzehnt zurückgezogen in den Bergen und blieb unerkannt, und über sein Leben ist wenig überliefert. Dann wird berichtet, wie er seinen Nachfolger fand. Eines Tages erhielt er Besuch von einem vierzehnjährigen Novizen namens Daoxin (580-651 n. Chr.), dessen Name so viel bedeutet wie „der zuverlässige Dao-Praktizierende“. Der Junge bat den Meister um Belehrung:

„Meister, sei mir gnädig, und lehre mich den Weg zur Befreiung von meinen Fesseln.“

Sengcan antwortete mit einer Frage:

„Wer fesselt dich denn?“

Der junge Daoxin erwiderte:

„Niemand fesselt mich.“

Daraufhin sagte der Lehrer:

„Dann frage ich dich, warum suchst du nach Befreiung von Fesseln?“

Daoxin erwachte daraufhin.[2]

Er blieb beim Sengcan und vertiefte seine Praxis. Nach neun Jahren intensiver Kultivierung wurde ihm schließlich der „Wahre-Dharma-Auge-Schatz“ sowie Bodhidharmas Robe übergeben, und so wurde er zum vierten Ahnlehrer ernannt. Mit ihm begann die Schule sich fest zu etablieren, und er zog eine große Schülerschaft an. Doch sein Nachfolger als fünfter Ahnlehrer wurde nicht von seinen Schülern ausgewählt; es geschah durch eine ungewöhnliche Begegnung. Auf einer Straße begegnete er einem siebenjährigen Kind, das zusammen mit seiner obdachlosen Mutter vom Betteln lebte, und er spürte etwas Besonderes an ihm. Der Lehrer fragte:

„Wie heißt du?“

Das Kind antwortete auf ungewöhnliche Weise:

„Ich habe zwar einen Namen, doch ist er nicht gewöhnlich.“

Der Lehrer, neugierig geworden, fragte nach:

„Ah, und wie lautet dieser Name?“

Das Kind antwortete:

„Die Buddhanatur!“

Der Lehrer war von dieser Antwort überrascht, gab jedoch nicht auf:

„Hast du keinen gewöhnlichen weltlichen Namen?“

Die Antwort des Kindes versetzte den Lehrer in Staunen:

„Da die Buddhanatur leer ist, so ist sie auch namenlos.“

Der Lehrer erkannte das außergewöhnliche Talent des Kindes und bat die Mutter um Erlaubnis, es als Schüler mit ins Kloster zu nehmen. Die Mutter stimmte zu. Dem Kind wurde der Mönchsname Hongren (601-675 n. Chr.) verliehen, was in etwa „der großzügig Geduldige“ bedeutet. Später wurde er als der fünfte Ahnlehrer anerkannt. Unter seiner Führung entwickelte sich die zen-buddhistische Schule zu einer großen Gemeinschaft in China. Es ist bekannt in buddhistischen Kreisen, dass ihm der „Wahre-Dharma-Auge-Schatz“, überbracht von Bodhidharma, sowie dessen Robe anvertraut wurden. Zahlreiche talentierte Schüler versammelten sich um ihn in seinem Kloster auf dem Shuangfeng-Berg im Kreis Huangmei der zentralchinesischen Provinz Hubei. Doch unter all seinen begabten Schülern wählte er keinen als seinen Nachfolger aus. Offensichtlich wartete er auf jemanden. Jahrzehnte vergingen, und aus dem einstigen Kind wurde bereits ein geachteter Meister. Schließlich erhielt er den lang ersehnten Besuch eines ungewöhnlichen jungen Mannes. Durch diesen Besuch wurde der Zen-Buddhismus nicht nur zur größten buddhistischen Strömung in China und später weltweit, sondern er veränderte die chinesische Kulturlandschaft tiefgreifend. Die Koans des sechsten Ahnlehrers folgen im nächsten Beitrag.[3]

<<< „Ich kann meinen Geist nicht finden“ – Das Koan über Bodhidharma und Huike


[1] 至北齊天平二年。有一居士。年踰四十。不言名氏。聿來設禮。而問祖曰。弟子身纏風恙。請和尚懺罪。祖曰。將罪來與汝懺。士良久曰。覓罪了不可得。祖曰。與汝懺罪竟。宜依佛法僧住。士曰。今見和尚。已知是僧。未審何名佛法。祖曰。是心是佛。是心是法。法佛無二。僧寶亦然。士曰。今日始知罪性不在內。不在外。不在中間。如其心然。佛法無二也。祖深器之。即為剃髮。曰是吾寶也。宜名僧璨。其年三月十八日。於光福寺受具。自茲疾漸愈。執侍經二載。祖遂囑累。付以衣法。偈曰。本來緣有地。因地種花生。本來無有種。花亦不曾生。又曰。汝受吾教。宜處深山。未可行化。當有國難。般若多羅懸記。所謂心中雖吉外頭凶者。是也。吾亦有宿累。今往酬之。汝諦思聖記。勿罹世難。善去善行。俟時傳付。。——《指月錄卷一 東土祖師 二祖慧可大師》

[2] 不知何許人。以白衣謁二祖得度。傳法後。隱於舒之皖公山。往來太湖縣司空山。當後周毀法。祖深自韜晦。居無常處。積十餘載。人無能知者。至隋開皇十二年。有沙彌道信。年始十四。來禮祖曰。願和尚慈悲。乞與解脫法門。祖曰。誰縛汝。曰無人縛。祖曰。何更求解脫乎。信於言下大悟。(統要云。信於是有省。又問如何是古佛心。祖曰。汝今是甚麼心。曰我今無心。祖曰。汝既無心。諸佛豈有耶。信于是頓息其疑)服勞九載。後於吉州受戒。侍奉尤謹。祖屢試以玄微。知其緣熟。乃付衣法。偈曰。華種雖因地。從地種華生。若無人下種。華地盡無生 祖又曰。昔可大師付吾法後。往鄴都行化三十餘年。今吾得汝。何滯此乎。即適羅浮山。優游二載。却還舊址。逾月士民奔趨。大設檀供。祖為四眾廣宣心要訖。於法會大樹下。合掌立化。隋煬大業二年丙寅十月十五日也。——《指月錄卷一 東土祖師 三祖僧璨大師》

[3] 姓司馬氏。世居河內。後徙於蘄州廣濟縣。生而超異。幼慕空宗。諸解脫門宛如宿習。既嗣祖風。攝心無寐。脅不至席者六十年。于隋大業十三載。領徒眾抵吉州。值群盜圍城。七旬不解。萬眾惶怖。祖愍之教念摩訶般若。時賊眾望雉堞間。若有神兵。乃相謂曰。城內必有異人。稍稍引去。唐武德甲申歲。師却返蘄春。住破頭山。學侶雲臻。一日往黃梅縣。路逢一小兒。骨相奇秀。異乎常童。祖問曰。子何姓。答曰。姓即有。不是常姓。祖曰。是何姓。答曰。是佛性。祖曰。汝無姓耶。答曰。性空故無。祖默識其法器。即俾侍者至其母所。乞令出家。母以宿緣故。殊無難色。遂捨為弟子。以至付法傳衣。偈曰。華種有生性。因地華生生。大緣與性合。當生生不生 貞觀癸卯歲。太宗嚮師道味。欲瞻風彩。詔赴京。祖上表遜謝。前後三返。第四度命使曰。如果不起。取首來。使至山諭旨。祖乃引頸就刃。神色儼然。使回以狀聞。帝彌欽重 高宗永徽辛亥歲。閏九月四日。忽垂誡門人曰。一切諸法。悉皆解脫。汝等各自護念。流化未來。言訖安坐而逝。壽七十有二。塔於本山。明年四月八日。塔戶自開。儀相如生。爾後門人遂不敢復閉焉。——《指月錄卷一 東土祖師 四祖道信大師》




Kategorien:Buddhismus, Chan- (Zen-) Buddhismus, Koan/Gong-An

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