Beitragsreihe: Wie kam der Buddhismus nach China?
Kap. 1: Die Anfänge der chinesischen Philosophien und Religionen
Teil 1: Konzi (Konfuzius) und der Konfuzianismus
Teil 2: Laozi (Laotse) und der Daoismus
Teil 3: Mengzi (Mencius) im „Streit der Hundert Schulen“
Teil 4: Zhuangzi, der Wahrhaftige vom Südlichen Blütenbland
Teil 5: Das Wechselspiel zwischen Legalismus, Konfuzianismus und Daoismus
Teil 7: Huainanzi, das Lebenselixier und die „Unsterblichkeit“
Teil 8: Die Anfänge des Buddhismus in China
Teil 9: Mouzi, der erste chinesische Buddhist?
Kap. 2: Die Durchsetzung des Buddhismus in der Wei- und Jin-Zeit (220-420 n. Chr.)
Teil 1: Die Entwicklung des religiösen Daoismus und der daoistischen Elixierschule
Teil 2: Die Einführung der buddhistischen Mönchsregeln in China
Teil 3: Der Streit zwischen den Daoisten, Buddhisten und Konfuzianern
Teil 4: Die Qingtan-Strömung und die Lehre des Mystischen
Teil 5: Wang Bi über das Sein und das Nichts von Laozi
Wang Bi 王弼 (226-249 n. Chr.) war der tonangebende Initiator der Qingtan-Strömung. Durch seine Beiträge wurde es erst möglich, sich in dem damals vom Konfuzianismus dominierten Gelehrtenkreis überhaupt mit Laozi und dem Daoismus offen auseinandersetzen zu können. Er war schon als Jugendlicher als gelehrt und redegewandt bekannt. Einmal bei einer Diskussionsrunde widerlegte er erfolgreich die schwierigsten Standpunkte der besten Redner des Landes, sodass niemand mehr ein Gegenargument bringen konnte. Daraufhin aber diskutierte er gegen sich selbst und widerlegte seine eigenen Standpunkte. Die Bewunderung allerseits war groß, und sein Ruf als Genie verbreitete sich rasch. Sein Verdienst für die chinesische Philosophie war die Verfassung von Kommentaren zu den Werken „Laozi“ (oder „Daodejing“), „Yi Jing“ (Das Buch der Wandlung) und „Lun Yu“ („Die Gespräche“ von Kongzi). Seine Interpretationen schafften den Brückenschlag zwischen Laozi und Kongzi, sodass eine Grundlage entstand, frei über beide diskutieren zu können. Nach Jahrhunderten der Verehrung von Kongzi als der heilige Lehrer brauchten die Gelehrten eine Rechtfertigung, warum die Auseinandersetzung mit der Lehre von Laozi keine Abkehr von der konfuzianischen Lehre bedeutete. In dem Buch 世说新语 shi shuo xin yu aus dem 5. Jh. n. Chr. sind Biografien und Gespräche der wichtigsten Persönlichkeiten der Wei- und Jin-Zeit aufgezeichnet. Darin findet man ein Gespräch zwischen dem jugendlichen Wang Bi und dem Beamten und Philosophen Pei Hui über Laozi und Kongzi:
Pei Hui fragte: „Das Nichts ist wohl die Quelle aller Dinge, der Weise (Kongzi) sagte kein Wort dazu, aber Laozi deklarierte das Nichts, warum?“
Wang Bi antwortete: „Der Weise (Kongzi) begriff das Nichts, dennoch kann das Nichts nicht in Worten erfasst werden, deshalb redete er immer über das Sein; Laozi und Zhuangzi hafteten am Sein, daher redeten sie über das, was ihnen fehlte.“ [1]
Mit dem Nichts und Sein verband er Kongzi, Laozi und Zhuangzi. Im Grunde ging es ihm bei den beiden Schulen im Kern um das Gleiche, sie redeten also von den zwei Seiten derselben Sache. Das Nichts ist die Grundlage des Seins, das Nichts kann nur durch das Sein zum Ausdruck gebracht werden. Kongzi sprach also nur über das Sein, weil er sich das Nichts schon verinnerlicht hat. Das Sein in seinem Sinne sind die herkömmlichen Dinge des Lebens, welche die Manifestation des Nichts darstellte. Laozi und Zhuangzi sprachen seiner Meinung nach deswegen ständig über das Nichts, da sie noch am Sein hängen. Ihre Kritik an das Sein deutete also für Wang Bi daraufhin, dass sie den Sinn des Nichts nicht vollkommen begriffen haben. Wang Bi stellte offensichtlich Kongzi über Laozi und Zhuangzi. Obwohl er die meiste Kraft dem Laozi widmete, verteidigte er die Stellung des Kongzi. Das könnte man auch als ein geschicktes Manöver sehen: Ohne die systemerhaltende Bedeutung von Kongzi zu verletzen, brachte er das Nichts von Laozi in die offizielle Diskussion der rechtgläubigen Schule ein. Damit ist eine Auseinandersetzung mit Laozi nicht mehr eine Flucht in eine abweichende Lehre, sondern die notwendige Erforschung der natürlichen Einheit von Sein und Nichts, welche Kongzi und Laozi beide verkörpern.
Dieser Schritt markierte den Start der Qingtan-Strömung. Zahlreiche Gelehrte befassten sich mit der (Neu-) Auslegung von Laozi, Zhuangzi und dem Buch der Wandlung (Yijing) und brachten ihre Standpunkte in die Diskussionsgespräche ein. Diese Gespräche fanden in geregelter Form statt: Zwei Teilnehmer saßen einander gegenüber und führten eine Diskussion zu einer bestimmten Diskussionsfrage. Einer führte sein Argument aus, dann kam der andere daran dies zu widerlegen. Dieser Prozess ging so lange weiter bis einer aufgab. Ein Dritter fungierte als Schiedsrichter und moderierte die Diskussion. Diese Diskussionen fanden laut historischer Überlieferung in sehr intensiver Stimmung statt. Oft führten sie den Schlagabtausch bis zur Erschöpfung aus. Diese Diskussionsevents kamen in der oberen sozialen Schicht in Mode, da ein Gewinn bei solcher Diskussion hohes Prestige brachte. Eine Zeit der freien philosophischen Entfaltung setzte sich in Gang. Die wichtigsten Themen drehten sich jedoch weiterhin um die Schulen des Konfuzianismus und Daoismus.
Stimmen unter den zeitgenössischen Gelehrten behaupten jedoch, dass der Buddhismus diese Diskussionsströmung angetrieben haben könnte. Demgemäß standen die chinesischen Schulen vor der Notwendigkeit einer Rechtfertigung ihres Welt- und Menschenbildes sowie ihrer Vorstellung vom Tod. Dieser Einfluss des Buddhismus kann schwer nachgewiesen werden, da in den Diskussionen selbst kein Wort über den Buddhismus gefallen war. Allgemein wird gesagt, dass die Teilnehmer der Qingtan-Bewegung deshalb so sehr nach dem Grund des Daseins und nach der Erklärung des Todes suchten, da sie angesichts der damals herrschenden Unruhen das Bewusstsein hegten, dass ihr materieller Überfluss, ihre soziale Stellung und auch ihr eigenes Leben nicht von Dauer seien. Dieses Bewusstsein erkannte man auch daran, dass die Gelehrten eine Art Droge namens Wu-Shi-San 五食散 zu sich nahmen. Diese aus fünf Mineralien bestehenden Pulver stammte angeblich aus der daoistischen Alchemie und sollte ein langes Leben ermöglichen. Diese Einnahme des Pulvers führte auch zu einer heiteren Stimmung und Erhitzung des Körpers. In den Schriften wird daher geschildert, dass sie durch die Hitze meistens keine Schuhe trugen.
Aus dem langen Leben wurde offensichtlich nichts: Wang Bi starb bereits mit 23. Nach dem Sturz der Dynastie Wei durch den Putsch des Familienclans Sima wurden alle politischen Gegner verfolgt und brutal ermordet. Wang Bi blieb zwar von einer Hinrichtung verschont, konnte sich aber nicht mehr von diesem Schockerlebnis erholen. Er starb ein Jahr später infolge einer schweren Krankheit. Seine Werke und Ideen leben jedoch bis heute. Seine Interpretation zum Werk „Laozi“ und dem „Yijing“ blieben über weitere Dynastien hinweg amtlich maßgebend. Auch heutzutage sind diese für die philosophische und philologische Erforschung unumgänglich. Er brachte die Philosophie des Laozi zu seiner Zeit auf einen Höhepunkt. Seine Erklärungen von Laozis „Nichts“ und „Sein“ waren bahnbrechend für die damalige Zeit.
Die kosmologische und ontologische Beschreibungen aus den Kapiteln 25 und 40 des „Laozi“ interpretierte Wang Bi folgendermaßen:
Originaltext aus dem Kapitel 25 des „Laozi“:
„Da war etwas, im Chaos vollendet, bevor Himmel und Erde entstanden. So still und leer! Eigenständig und nicht wandelbar! Stets kreisend und doch unerschöpflich! Als aller Welten Mutter kann es gelten. Ich kenne seinen Namen nicht und nenne es mit dem Wort „道 Dao“.“ [2]
Die Interpretation von Wang Bi dazu:
Chaotisch, daher nicht erfassbar, und deshalb entstehen alle Dinge dadurch. Daher heißt es „im Chaos vollendet“. Man weißt nicht von wem dieses geboren wurde, daher heißt es „bevor Himmel und Erde entstanden“. „Still und leer“, da es keine Form aufweist. Mit keinem Ding ist es zu vergleichen, daher „eigenständig“. Bei all den Wandlungen, von Anfang bis zu Ende, verliert es nicht seine Beständigkeit, deshalb heißt es „unwandelbar“. Stets kreisend und allgegenwärtig, es wirkt überall, ist aber dennoch „unerschöpflich“. Es kann alle Formen hervorbringen, deshalb kann es die „Mutter aller Welten“ sein. [3]
Dieses „Etwas“ wird mit dem Zeichen „道 Dao“ dargestellt. Dieses kosmologische Konzept bringt die Frage mit sich: Existierte dieses vor dem Sein als eigenständiges Wesen oder Phänomen? Der religiöse Daoismus ehrt das Dao als Schöpfergott. Aber Laozi und Zhuangzi haben einen Schöpfergott nicht ausdrücklich erwähnt. Sie deuteten nur auf einen mystischen Ursprung hin: Laozi nannte diesen „Geist des Tales 谷神 gu shen“. Zhuangzi sprach vom „Schöpfer der Dinge 造物者 zao wu zhe“, erwähnte aber keinen Gott. Wang Bi ging den philosophischen Weg. Das sehen wir u. a. an seiner Interpretation des Kapitels 40 aus dem „Laozi“:
Originaltext aus dem Kapitel 40 des „Laozi“:
Die zehntausenden Dinge unter dem Himmel entstehen aus dem Sein. Das Sein entsteht aus dem Nichts. [4]
Die Interpretation von Wang Bi:
Die Dinge unter dem Himmel entstehen aus dem Sein, der Anfang des Seins basiert auf dem Nichts. Will man das Sein vollenden, kehrt es mit Sicherheit zum Nichts zurück. [5]
Hiermit betont Wang Bi das „Nichts“ als „Grundlage“ des Seins und kein vom „Sein“ separat zu betrachtendes Phänomen und auch keinen Schöpfergott. In seinem „Kurzen Leitfaden zum Laozi“ beschreibt er das „Nichts“ so:
Die Dinge entstehen und kommen zur Vollendung durch das Formlose und Namenlose. Formlos und namenlos ist der Ursprung allen Seins, nicht warm und nicht kühl, nicht gong und nicht shang (Musiktöne). […] Wenn es warm ist, dann kann es nicht kühl sein, wenn es gong ist, dann kann es nicht shang sein. [6]
Aus Wang Bis Sicht ist dieses „Nichts“ leer von jeglichen Eigenschaften, da ansonsten das Sein sich nicht frei entfalten kann. Da das Sein unterschiedliche Ausprägungen wie warm und kühl sowie ungleiche Töne aufweist, kann der Ursprung des Seins nicht irgendeiner dieser Eigenschaften zugeordnet werden. Die Vielfalt des Seins kann daher nur entstehen, wenn seine Grundlage „neutral“ ist.
Seine Interpretation des Seins und Nichts legte eine hohe Latte in der Philosophie der damaligen Zeit. Wenn jemand ihm das Wasser hätte reichen können, wäre es Guo Xiang mit seinem Kommentarwerk zum „Zhuangzi“ gewesen. Die beiden konnten sich nicht kennenlernen, da Guo Xiang erst drei Jahre nach dem Tod von Wang Bi geboren wurde. Es war eine politisch heikle Zeit. Die brutale Verfolgung Andersdenkender durch das neue Regime der Jin-Dynastie erzeugte eine erdrückende Stimmung in der Welt der Intellektuellen. Diskutierten die Gelehrten davor offen über die Eigenschaften eines idealen Staatsoberhauptes, flüchteten sie sich jetzt noch mehr in abstrakte philosophische Auseinandersetzungen.
Herausragende Vertreter dieser Diskussionsrunden waren u. a. die sog. „Sieben Ehrenwürdigen des Bambushaines“. Sieben, hoch angesehene Gelehrte der Zeit trafen sich immer in einem Bambushain und tauschten ihre Ansichten aus. Sie befanden sich in dem Dilemma, einerseits aus Verantwortungsbewusstsein als Eliten des Landes dem Staate Verdienste zu leisten, anderseits aber nicht der aktuellen gewaltsamen Herrschaft dienen zu wollen. Daran sieht man ihre konfuzianische Einstellung, welche sie aber nicht ausleben konnten oder wollten. Um sowohl der Einberufung als auch einer Verfolgung durch das Kaiserhaus zu entgehen, führten sie einen exzentrischen Lebensstil. Anders als ihre Vorgänger nahmen sie keine aufheiternde Pulverdroge zu sich, sondern betranken sich regelmäßig. Philosophisch distanzierten sie sich gänzlich vom Konfuzianismus und fanden Zuflucht bei den drei „Mystischen“ (Laozi, Zhuangzi und Yijing). Guo Xiang war einer von diesen sieben Ehrwürdigen. Bekannt wurde er durch sein Kommentarwerk zum Zhuangzi. Zu jener Zeit soll es zahlreiche Kommentare zum Zhuangzi gegeben haben. Sein Werk ragte schließlich heraus und blieb bis heute in diesem Gebiet maßgebend. Darin legte er die kosmologischen und ontologischen Ideen von Zhuangzi neu aus und brachte ergänzende Ansätze zur Bedeutung des „Nichts“ und des „Seins“.
–> Fortsetzung: Teil 6: Guo Xiang über Zhuangzi und sein „Flötenspiel des Himmels“
[1] 徽问曰:“夫无者,诚万物之所资,圣人莫肯致言,而老子申之无已,何邪”,王弼回答:“圣人体无,无又不可以训,故言必及有;老、庄未免于有,恒训,其所不足” 《世说新语﹒文学》
[2] 有物混成 先天地生。寂兮寥兮,独立不改,周行而不殆,可以为天下母。吾不知其名,字之曰道。——《老子道德经 25章》
[3] 混然不可得而知,而萬物由之以成,故曰混成也。不知其誰之子,故先天地生。寂寥,無形體也。無物之匹,故曰獨立也。返化終始,不失其常,故曰不改也。周行無所不至而免殆,能生全大形也,故可以為天下母也。——王弼老子注25
[4] 反者道之動,弱者道之用。天下萬物生於有,有生於無。——道德经第40章
[5] 高以下為基,貴以賤為本,有以無為用,此其反也。[…] 天下之物皆以有為生,有之所始,以無為本,將欲全有,必反於無也。——王弼 老子注40
[6] 夫物之所以生,功之所以成,必生乎无形,由乎无名。无形无名者,万物之宗也。不温不凉,不宫不商;[…] 若温也则不能凉矣,宫也则不能商矣。[…] ——王弼 《老子指略》
Kategorien:Buddhismus China, Daoismus / Taoismus, Die Lehre des Mystischen 玄学, Laozi/Laotse 老子
Kommentar verfassen