Guo Xiang über Zhuangzi und sein „Flötenspiel des Himmels“

Beitragsreihe: Wie kam der Buddhismus nach China?

Kap. 1: Die Anfänge der chinesischen Philosophien und Religionen

Teil 1: Konzi (Konfuzius) und der Konfuzianismus

Teil 2: Laozi (Laotse) und der Daoismus

Teil 3: Mengzi (Mencius) im „Streit der Hundert Schulen“

Teil 4: Zhuangzi, der Wahrhaftige vom Südlichen Blütenbland

Teil 5: Das Wechselspiel zwischen Legalismus, Konfuzianismus und Daoismus

Teil 6: Die Etablierung des monarchistischen Konfuzianismus als Staatsideologie ab der 2. Jh. v. Chr.

Teil 7: Huainanzi, das Lebenselixier und die „Unsterblichkeit“

Teil 8: Die Anfänge des Buddhismus in China

Teil 9: Mouzi, der erste chinesische Buddhist?

Kap. 2: Die Durchsetzung des Buddhismus in der Wei- und Jin-Zeit (220-420 n. Chr.)

Teil 1: Die Entwicklung des religiösen Daoismus und der daoistischen Elixierschule

Teil 2: Die Einführung der buddhistischen Mönchsregeln in China

Teil 3: Der Streit zwischen den Daoisten, Buddhisten und Konfuzianern

Teil 4: Die Qingtan-Strömung und die Lehre des Mystischen

Teil 5: Wang Bi über das Sein und das Nichts von Laozi

Teil 6: Guo Xiang über Zhuangzi und sein „Flötenspiel des Himmels“

Das Werk „Zhuangzi“, auch „Das wahre Buch vom südlichen Blütenland“ genannt, wurde in einer geistigen Atmosphäre geschrieben, welche die aktuelle Gemütslage der Intellektuellen unter der brutalen Herrschaft des Sima-Clans der Jin-Dynastie (266-420 n. Chr.) widerspiegelte. Sie waren frustriert, aber machtlos, sie lebten unter dem ständigen Druck, politisch verfolgt zu werden und präferierten daher ein Leben in der  Zurückgezogenheit. Sie befassten sich nicht mehr mit den weltlichen Idealen des Konfuzianismus, sondern mit der Welterklärung durch die daoistische Philosophie. Insbesondere Wang Bis Interpretationen zu „Laozi“ und das Kommentarwerk von Guo Xiang zu „Zhuangzi“ wurden maßgebende Werke für die Nachwelt. Guo Xiangs Erklärung zur Kosmologie und Ontologie von „Zhuangzi“ versuchen wir anhand seiner Interpretation zum folgenden Auszug aus Zhuangzi näher kennenzulernen:

Meister Ziqi saß an seinem Tisch, blickte zum Himmel auf und atmete lang aus. Er wirkte abwesend, als hätte ihn sein Geist verlassen. Der Schüler Ziyou, der dienend vor ihm stand, sprach: „Was geht hier vor? Kann man denn den Leib wie dürres Holz erstarren und den Geist wie tote Asche erlöschen lassen? Ihr seid so anders als sonst, wenn Ihr an dem Tisch sitzt.“

Meister Ziqi sprach: „Gut, dass du danach fragst. Heute habe ich mein Ich begraben. Weißt du, was das heißt? Du hast vielleicht der Menschen Flötenspiel gehört, allein der Erde Flötenspiel noch nicht vernommen. Du hast vielleicht der Erde Flötenspiel gehört, allein des Himmels Flötenspiel noch nicht vernommen.“

Der Jünger sprach: „Darf ich fragen, wie das zugeht?“

Meister Ziqi sprach: „Das Große stößt seinen Atem aus, man nennt ihn Wind. Er tut entweder nichts, oder er bläst, dann heulen heftig alle Löcher. Hast du noch nie dieses Brausen vernommen? Der Bergwälder steile Hänge, uralter Bäume Höhlungen und Löcher. […] Da zischt es, da schwirrt es, da schilt es, da schnauft es, da ruft es, da klagt es, da dröhnt es, da kracht es. Der Anlaut klingt schrill, ihm folgen keuchende Töne. Wenn der Wind sanft weht, gibt es leise Harmonien; wenn ein Wirbelsturm sich erhebt, so gibt es starke Harmonien. Wenn dann der grause Sturm sich legt, so stehen alle Öffnungen leer. Hast du noch nie gesehen, wie alles leise zittert und bebt?“

Der Jünger sprach: „Der Erde Flötenspiel kommt also einfach aus den verschiedenen Öffnungen, wie der Menschen Flötenspiel aus gleichgereihten Röhren kommt. Aber darf ich fragen: Wie ist das Flötenspiel des Himmels?“

Meister Ziqi sprach: „Das bläst auf tausenderlei verschiedene Arten. Es lässt alles selbst tun. Wenn alles von selbst getan wird, wer heult denn?“ [1]

Anhand dieser Gleichnisse drückt Zhuangzi seine Weltanschauung aus. Im obigen Dialog beschreibt er eine Erfahrung in tiefer Meditation, bei welcher das „Ich“ erloschen ist. Weiters verglich er alles Sein mit einem „Flötenspiel“: Das „Flötenspiel der Menschen“ ertönt durch die Menschen, das „Flötenspiels der Erde“ durch den Wind, den Atem oder das Qi des Großen. Das „Flötenspiel des Himmels“ beschreibt Guo Xiang mit Bezug auf das oben erwähnte „Große“, welches er nicht als ein eigenständiges Wesen sieht, wie folgt:

Dieses Große ist ohne Ding. Atmet etwa irgendein Ding dieses Qi? Das Qi kommt eigenständig zustande. Alle Dinge entstehen eigenständig. Die Essenz dieses Eigenständigen ist groß, deshalb nennt man es das Große. Es ist das große Schlichte. Huainanzi erklärt es als das „große Unbekannte“, andere halten dieses für das Nichts, andere für die Urenergie (Ur-Qi), andere für das Chaos, andere das nicht begreifbare Himmlische.[2]

Diese Sicht, dass alles Sein eigenständig entsteht, unterscheidet ihn die von Wang Bi? Wang Bi erläuterte das Nichts als die gemeinsame Grundlage alles Seins. Alles ist somit aus dem Nichts entstanden und wird zu diesem zurückkehren. Dieses Nichts ist somit die Einheit, die in jedem Sein steckt und das Gemeinsame hinter der Vielfalt. Wenn jedes Ding eigenständig entsteht, dann scheint es so zu sein, als gäbe es nicht eine gemeinsame gleiche Einheit, sondern jedes Ding hätte eine eigene unabhängige Quelle? Ist es so zu verstehen? Guo Xiang erklärt es mit dem „Flötenspiel des Himmels“ so:

Dieses Flötenspiel des Himmels, gibt es etwa ein separates Ding dafür? Die Löcher der Erde und die Bambusflöten sowie alles Entstandene bilden gemeinsam einen „Himmel“ (Welt, Kosmos). Nichts ist einfach nichts, aus dem kein Sein entstehen kann. Wenn das Sein noch nicht entstanden ist, kann es nichts Weiteres produzieren. Wer ist es dann, der die Entstehung der Dinge hervorbringt? Sie sind eigenständig von selbst entstanden. „Von selbst“ heißt nicht vom „Ich“ entstanden. Wenn „Ich“ kein Ding produzieren kann, dann kann auch kein Ding dieses „Ich“ produzieren. Deshalb ist das „Ich“ von selbst aus der Natur entstanden. Das Natürliche ist nicht aus einer Handlung geschaffen. Betrachten wir den Himmel. Kann denn der Himmel Dinge veranlassen, ihm zu folgen? Selbst der Himmel ist kein eigenständiges Sein, wie kann er Dinge hervorbringen? Daher ist der Himmel nur ein Name für alle Dinge und ist nicht der Herr über alle Dinge. Die Dinge entstehen selbst und sind von nirgends gekommen. Das ist der Weg des Himmels.[3]

Guo Xiangs Darstellung ist ungewöhnlich. Er zerschmettert mit seiner Aussage die Vorstellung einer auf Zeitfolge basierenden Hervorbringung der Dinge oder Phänomene. Dadurch ist es nicht mehr notwendig, nach einem ersten Beginn alles Seins zu fragen. Für ihn ist kein Ding von irgendetwas geschaffen. Auch verneint er ein „Nichts“ als Quelle, denn wenn es nichts ist, kann es kein Sein hervorbringen, ansonsten ist es kein Nichts mehr. Denn sobald man von etwas behauptet, etwas hervorbringen zu können, ist es schon ein Sein und nicht mehr Nichts. Umgekehrt gilt es auch für das Sein, dass es niemals ein Nichts gewesen sein kann. Somit hat das Sein selbst von Anfang an existiert. Dabei betont er vor allem, dass kein Ding durch eine willkürliche Handlung etwas anderes schaffen kann, also kein produzierendes Ich, kein schöpferischer Himmel. Der Himmel ist nur der Name für alles Seiende zusammen. Diese Aussage findet man auch so an einer anderen Stelle:

Die zehntausend Dinge und Gefühle sind derart unterschiedlich. Wenn deren Entstehen durch einen wahren Herrscher veranlasst wurde, man aber letztendlich keine Spuren von diesem wahren Herrscher findet, dann ist es klar, dass die Dinge von Natur aus und nicht von jemandem veranlasst wurden. [4]

„Keine Spuren von diesem Herrscher“ ist im Einklang mit der „Vollendung der Dinge durch das Form- und Namenlosen“ von Wang Bi. Demgemäß sei die Grundlage der Schöpfung neutral und frei von jeglichen Seinszuständen. Deshalb sei alles „von Natur aus“ entstanden, im Sinne von Laozis „Ohne-Tun“. Dies entspricht Laozis und Zhuangzis Idee: Alles sei aus dem Nichts entstanden.

–> Fortsetzung: Teil 6: Guo Xiang über das Nichts, das Mystische und den Tod


[1] 南郭子綦隐机而坐,仰天而嘘,苔焉似丧其耦。颜成子游立侍乎前 ,曰:“何居乎?形固可使如槁木,而心固可使如死灰乎?今之隐机 者,非昔之隐机者也?”子綦曰:“偃,不亦善乎而问之也!今者吾丧我,汝知之乎?女闻人籁而未闻地籁,女闻地籁而不闻天籁夫!” 子游曰:“敢问其方。”子綦曰:“夫大块噫气,其名为风。是唯 无作,作则万窍怒呺。而独不闻之翏翏乎?山林之畏佳,大木百围之 窍穴,似鼻,似口,似耳,似笄,似圈,似臼,似洼者,似污者。激 者、謞者、叱者、吸者、叫者、譹者、宎者,咬者,前者唱于而随者 唱喁,泠风则小和,飘风则大和,厉风济则众窍为虚。而独不见之调 调之刁刁乎?” 子游曰:“地籁则众窍是已,人籁则比竹是已,敢问天籁。”子綦 曰:“夫吹万不同,而使其自己也。咸其自取,怒者其谁邪?” ——《庄子 齐物论》

[2] 块者无物也,噫气者,岂有物哉?气块然而自噫耳,物之生也,莫不块然而自生,则块然之体大矣,故遂以大块为名。块苦怪反,大朴之貌,淮南子作大昧解者,或以为无,或以为元气,或以为混成,或以为天谬也。——《郭象 庄子注 齐物论注》

[3] 此天籁也, 夫天籁者, 岂复别有一物哉? 即衆窍比竹之属接乎有生之𩔖㑹而共成一天耳。无既无矣,则不能生有,有之未生,又不能为生,然则生生者谁哉?块然而自生耳,自生耳,非我生也,我既不能生物,物亦不能生我,则我自然耳,自己而然,则谓之天然,天然耳,非为也故,以天言之,以天言之所以明其自然也,岂苍苍之谓哉,而或者谓天籁役物使从已也,夫天且不能自有,况能有物哉,故天也者万物之总名,也莫适为天谯主役物乎故,物各自生而无所出焉,此天道也。——《郭象 庄子注 齐物论注》

[4] 万物万情,趣舍不同,若有真宰使之然也。起索真宰之朕迹,而亦终不得,则明物皆自然,无使物然也。 ——《郭象 庄子注 齐物论注》

(Zitate auf Basis von den Übersetzungen von Richard Wilhelm und Viktor Kalinke adaptiert; Übersetzung und Beitragserstellung durch Mingqing Xu mit Korrekturen von Ursula Presslauer, Birgit Seissl, Roland Parth und Alexander Maurer)



Kategorien:Buddhismus China, Daoismus / Taoismus, Die Lehre des Mystischen 玄学, Zhuangzi/Dschuang Dsi 庄子

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